NRW-Verfassungsschutzbericht: Schwache Neonazi-Szene und analysierte Corona-Rebellen
Region Aachen/Düsseldorf. Am 22. Juni haben das Landesinnenministerium und der Landesverfassungsschutz den Verfassungsschutzbericht 2020 für NRW vorgestellt. Neu ist, dass parallel dazu ein Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und „Corona-Leugnern“ publiziert wurde. Deutlich wird, dass es auch regionale Bezüge zu verfassungsfeindlichen Maßnahmen-Gegner*innen gibt. Überdies macht sich bemerkbar, dass die Neonazi-Szene geschwächt wirkt.
Das Auffällige im neuen Bericht ist das, was 2020 fehlt: Nicht mehr genannt wird die Neonazi-Gruppe „Syndikat 52“ (S52). Formal war sie dem regionalen Kreisverband der Miniaturpartei „Die Rechte“ (DR) untergeordnet, indirekt aber die Wiederbelebung der verbotenen „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL). Zwar wird der DR-Kreisverband Aachen/Heinsberg bzw. Heinsberg/Aachen noch im Bericht erwähnt, jedoch werden diesem – anders als in früheren Jahren – keine besonderen Aktivitäten mehr attestiert. Wie es um den Kreisverband gestellt ist zeigt nicht nur, dass man S52 als DR-Anhang unerwähnt lässt. Festgestellt wird auch, dass er 2020 seine Internet-Seite löschte.
Zusammenbruch der heilen NS-Welt
Hintergründe dafür, dass der DR-Kreisverband marginalisiert dargestellt wird, werden in dem Bericht nicht genannt. Derer gibt es mehrere. Gleichwohl waren DR und S52 auch 2020 und 2021 aktiv. Kurz vor Beginn der Corona-Pandemie fand noch ein „Heldengedenken“ statt. In Aachen kam es 2020 zu Sprüh- und Aufkleberaktionen sowie zu Angriffen auf Antifaschist*innen oder als links eingeordnete Menschen. Im Frühjahr 2021 wurde der ehemalige KAL-Anführer neuer DR-Landesvize. Die „beliebte Frohnatur […] aus dem Rheinland“ (DR) ist seit mehr als zwanzig Jahren aktiv und lebt in Vettweiß im Kreis Düren.
2019 kam es in Gangelt und Geilenkirchen zu massiven Schändungen jüdischer Friedhöfe durch mutmaßlich S52- und DR-Aktivisten, zudem kandidierten Neonazis aus dem Spektrum im Kreis Heinsberg bei der Kommunalwahl 2020 für die NPD. Ermittler*innendruck, frühere Verurteilungen und anstehende Prozesse trugen parallel allerdings dazu bei, dass andere Aktivitäten zurückgingen.
In den sozialen Medien waren DR bzw. S52 lange vor dem Ende der Homepage wegen Profilsperrungen fast unsichtbar geworden. In Aachen lösten sich nach einer Reihe von Straftaten und Vorfällen rund um den Jahreswechsel 2020/2021 mehrere junge Neonazis aus der Szene und wechselten teils zum politisch entgegengesetzten Lager. Glaubt man Szenekreisen und Aussteiger*innen war jedoch schon 2019 ein Jahr, in dem manche Aktivposten zwar noch Wahlkampf betrieben, andere Kader sich zugleich mehr und mehr ins Privat- und Familienleben zurückzogen.
Verurteilt wurde 2019 u.a. ein früherer Kopf der DR und Aktivist von S52 in Aachen wegen Beihilfe zum Drogenhandel. Während manche Kader neue Aktivitäten und Einflussnahme des Mannes in DR- und S52-Kreisen akzeptierten, missbilligten andere dies und reduzierten ihre Aktivitäten oder stellten diese ganz ein. 2020 kamen zudem Gerüchte auf, dass einzelne Neonazis aus der Region auch Kontakte ins kriminelle Milieu unterhielten, was für andere nicht mehr in die „heile“ NS-Welt passen wollte.
Reaktionäre Rebell*innen gegen die Corona-Maßnahmen
In mehreren Bundesländern werden die „Querdenken“-Bewegung oder Teile davon durch die Verfassungsschutzbehörden beobachtet. Weil sie diese Entwicklung meist keinem der bisherigen politischen Spektren konkret zuordnen konnten, umschreibt man das Phänomen nun als „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates“. Der NRW-„Sonderbericht zu Verschwörungsmythen und ‚Corona-Leugnern‘“ geht sehr ausführlich auf diese Szene ein.
Er beleuchtet etwa die Nähe zum Rechtsextremismus, erklärt aber auch, wie als linksextrem eingestufte Parteien und Gruppen sich verhalten, z.B. durch Proteste gegen „Querdenker*innen“. Der Landesverfassungsschutz stellt auch fest, dass ein großer Teil der Maßnahmen-Kritiker*innen und -Gegner*innen (ursprünglich) aus der Mitte der Gesellschaft kommt, sich jedoch nicht von Extremist*innen distanziert. Zugleich kursieren Verschwörungserzählungen und es findet eine zum Teil starke antidemokratische Radikalisierung statt.
Ausschlaggebend für die Region Aachen dürfte vor allem die Beobachtung der „Corona Rebellen Düsseldorf“ (CRD) [1] sein, denen der Landesverfassungsschutz eine Nähe zu Rechtsextremen und „Reichsbürger*innen“ attestiert. Etwaige Bezüge in die Region werden indes nicht im Bericht thematisiert. Dessen ungeachtet ist festzustellen, dass entsprechende Proteste in Heinsberg [2] eine Nähe zu den CRD hatten. So kooperierte der Anmelder der meisten Versammlungen immer wieder mit den CRD, sowohl bei Protesten in Düsseldorf, Mönchengladbach als auch in Heinsberg. Er trat zeitweise selbst in Kleidung der CRD auf und arbeitete mit einem maßgeblichen Aktivisten der CRD zusammen.
Besagter CRD-Aktivist ist ein rechtsextremer „Reichsbürger“ aus Jüchen im Rhein-Kreis Neuss. Er trat bzw. tritt als Rapper „Master Spitter“ immer wieder bei rechtsextremen, „Gelbwesten“- und maßnahmenfeindlichen Versammlungen auf sowie besuchte in der Vergangenheit und 2021 solche in Heinsberg, Aachen und im niederländischen Kerkrade. So trat „Master Spitter“ auf einer Kundgebung am 20. Februar 2021 in Aachen in CRD-Kleidung auf. Er war Mitte März 2021 auch in die Organisation einer Kundgebung in Heinsberg eingebunden und trat als eine Art Moderator sowie als Musiker auf.
„Sturm auf den Reichstag“ oder Rapbellion?
Am 5. Juni 2021 trat der Jüchener bei einer entsprechenden Versammlung in Kerkrade auf, an der Niederländer und Deutsche teilnahmen. Mit anderen CRD-Aktivist*innen wirkte „Master Spitter“ auch als Statist in einem Video des Kooperationsprojektes „Rapbellions“ mit, an dem auch der Soulsänger und Verschwörungsideologe Xavier Naidoo mitwirkt. Ein rechtsradikaler, verschwörungsideologischer Medienaktivist aus Heinsberg ist ebenso in die „Rapbellions“ und ein anderes völkisches Projekt mit Naidoo involviert. Auch dieser Heinsberger trat zuweilen in Kleidung der „Corona Rebellen Düsseldorf“ auf.
Kontakte zu „Master Spitter“ unterhielt auch eine Heilpraktikerin und „Reichsbürgerin“ aus Roetgen, die im August 2020 Schlagzeilen machte. Der von ihr mit zu verantwortende „Sturm auf den Reichstag“ wird sowohl im Bundes- als auch im Landesverfassungschutzbericht 2020 erwähnt. Auf einer Versammlung einer „Reichsbürger*innen“-Gruppierung vor dem Reichstag habe die „Reichsbürgerin aus der Städteregion Aachen […] eine Rede [gehalten] und […] dazu auf[gerufen], die Reichstagstreppe zu stürmen“, schreibt die NRW-Behörde. Auf derselben Bühne war zuvor auch „Master Spitter“ aufgetreten.
Nach dem Aufruf der Roetgenerin besetzten mehrere hundert Demonstrierende Treppen und Vorbauten am Reichstagsgebäude. Auch im Bericht des Bundesverfassungsschutzes über das Jahr 2020 wird die Aktion erwähnt . An jenem 29. August 2020 hätten kooperierende „Reichsbürger*innen“ und Rechtsextreme „die heterogene Protestlage zwar nicht dominieren, aber für ihre Zwecke instrumentalisieren und wirkmächtige Bilder erzeugen“ können. Mit dabei waren auch die „Corona Rebellen Düsseldorf“ sowie einzelne Rechtsextreme und „Reichsbürger*innen“ aus der Region Aachen, Düren und Heinsberg. (mik)
- [1] Wir verwenden den selbst gewählten Namen der Gruppe. Festzuhalten ist, dass bei den CRD immer auch (junge) Frauen aktiv waren bzw. – zuletzt verstärkt – an Aktionen und Protesten teilnehmen. Diese (jungen) Frauen haben zum Teil auch eine Nähe zur HipHop- und Techno-Szene. „Corona Rebell*innen“ wäre daher wohl eine zutreffendere Beschreibung.
- [2] Der Link führt auf die Hauptseite des „Bündnisses gegen Rechts – für Demokratie und Toleranz im Kreis Heinsberg“. Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung findet sich dort an erster Stelle der ausführliche Bericht „Die Proteste im Kreis Heinsberg gegen die Corona-Maßnahmen mit einer Nähe zum rechten Rand“. Leider ist die Homepage so aufgebaut, dass einzelne Beiträge nicht verlinkt werden können. Es ist davon auszugehen, dass der genannte Hintergrundbericht zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr an oberster Stelle zu finden ist.