Neonazi aus Aachen angeklagt: „Turonen“-Prozess in Erfurt neu gestartet

Erfurt/Aachen. Ein Prozess am Landgericht Erfurt gegen ein Netzwerk von Neonazis und deren Mitstreiter*innen, die unter anderem wegen bandenmäßigen Drogenhandels angeklagt sind, ist zum zweiten Mal gestartet. Unter den Angeklagten befindet sich auch ein Neonazi aus Aachen, der im März 2019 in einem langen Prozess am Landgericht Aachen wegen Beihilfe zum Drogenhandel verurteilt worden war. Er soll im Grenzland Drogen für das Netzwerk besorgt haben.

Die Staatsanwalt Gera hatte im Frühjahr 2022 mehrere Mitglieder und Sympathisant*innen der Neonazi-Gruppe „Turonen“ bzw. „Bruderschaft Thüringen“ angeklagt. Den sechs Männern und drei Frauen wird überwiegend bandenmäßiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zur Last gelegt. Ermittler*innen stellten zudem Delikte aus dem Bereich der Zwangsprostitution und der Geldwäsche fest. Der Prozess am Landgericht Erfurt hatte im Juli begonnen.

Da einer der Angeklagten jedoch erkrankte, musste das Verfahren Ende August ausgesetzt werden. Einmal begonnene Strafprozesse müssen in festgelegten Intervallen fortgeführt werden. Ansonsten platzen sie und beginnen wieder ganz von vorne. Terminiert waren im ersten Prozessanlauf fast zwanzig Verhandlungstage. Allerdings kam es schon in den ersten sieben Prozesstagen wiederholt zu Verzögerungen. Aus ähnlichen Verfahren ist bekannt, dass solche Prozesse sich lange hinziehen können.

Das neue Verfahren am Landgericht Erfurt begann am Montag und ist vorerst bis Februar 2023 terminiert. Die drei Frauen und sechs Männer sollen teils als Bande und möglicherweise als kriminelle Vereinigung gehandelt haben. „Die Prozessvertreter der Staatsanwaltschaft Gera haben […] mit dem erneuten Verlesen der mehr als 190 Anklagepunkte begonnen“, berichtete die „Thüringer Allgemeine“. In den Jahren 2020 und 2021 sollen die Angeklagten mit Drogen im Wert von rund 800.000 Euro gehandelt haben.

Langer Drogen-Prozess in Aachen

Der in Erfurt mit angeklagte Aachener war im März 2019 verurteilt worden in einem Prozess mit insgesamt fünf Angeklagten. Daraufhin hatte der heute 39-Jährige Revision eingelegt. Seine Verurteilung wurde im Herbst 2020 vom Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe jedoch bestätigt. Die Untersuchungshaft nach einer Drogenrazzia mit SEK-Einsatz in Aachen, die Mitte 2017 stattfand, wurde auf die zu verbüßende Haftstrafe angerechnet. Daher musste der Aachener rund um den Jahreswechsel 2020/2021 zunächst nur noch eine geringe Reststrafe absitzen.

In der Zeit zwischen seiner Verurteilung und dem Antritt seiner Strafhaft soll der Neonazi erneut in den Verdacht geraten sein, in der hiesigen Region unter anderem Kokain für die „Kamerad*innen“ besorgt zu haben. Kuriere oder er selbst sollen die Drogen dann etwa nach Thüringen transportiert haben. Ein ebenso angeklagter Szene-Anwalt aus Hessen soll überdies Scheinfirmen aufgebaut haben.

Die Ermittler*innen vermuten, dass so Gelder aus den Drogengeschäften gewaschen werden sollten. Schon früh hatten mehrere Medien auch über den Verdacht berichtet, dass ein als Unterstützer der Neonazi-Terrorzelle „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) verurteilter Mann von den „Turonen“ regelmäßig Geld erhalten habe. Im ersten Prozessanlauf wurde das nur am Rande thematisiert.

Ferner sollten laut Ermittler*innen über besagte Scheinfirmen Gelder aus kriminellen Geschäften quasi legal als Lohn ausgezahlt werden an Mitstreiter*innen des „rechtsextremen Drogenkartells“ (MDR). Auch der Aachener war laut Prozessakte einige Zeit formal bei einer der Firmen angestellt und sollte demnach Arbeiten im IT-Bereich erledigen. Allerdings deutete wohl nichts darauf hin, dass er oder andere „Angestellten“ den jeweiligen Tätigkeiten nachgegangen waren.

Von der Großrazzia bis zum Prozess

Polizei und Staatsanwaltschaft waren im Februar 2021 mit einer groß angelegten Razzia gegen das Netzwerk von Neonazis mit Schwerpunkt in Thüringen vorgegangen. Durchsucht wurden fast dreißig Wohnungen und Geschäftsräume, unter anderem eine Neonazi-Immobilie im thüringischen Ballstädt und ein Bordell in Gotha. Die Ermittler*innen nahmen mehrere Beschuldigte fest.

Neonazis aus diesem Netzwerk hatten zuvor jedoch auch Konzerte organisiert. 2016 hatten die „Turonen“ etwa gemeinsam mit „Kameraden*innen“ aus der Schweiz unter konspirativen Bedingungen das „Rocktoberfest“ in dem kleinen Ort Unterwasser im Kanton St. Gallen veranstaltet. Vor den meist angereisten 5.000 bis 6.000 Rechtsextremen traten mehrere bekannte deutsche und internationale Neonazi-Bands auf.

Auch Rechtsextreme aus der Region besuchten verschiedene Konzerte – etwa in Ostdeutschland – die von den „Turonen“ selbst oder zumindest mit organisiert wurden. Auf dem Konzert im schweizerischen Unterwasser (s.o.) trat im Oktober 2016 auch ein Neonazi-Rapper aus Nordrhein-Westfalen auf, der bei dem Konzert von zwei Sängern aus Aachen begleitet wurde. Beide Begleitsänger waren zuvor in der 2012 verbotenen „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL) aktiv gewesen.

Einer jener Begleitsänger ist nun in Erfurt unter den Angeklagten. Er stammt aus einer Familie, deren Mitglieder seit Jahrzehnten teils führend in der rechtsextremen Szene aktiv waren oder sind. Er selbst war auch in Nachfolgestrukturen der KAL, nämlich im Kreisverband Aachen der Neonazi-Partei „Die Rechte“ (DR) und deren Unterorganisation „Syndikat 52“ (S52) teils führend engagiert. In dem Prozess am Landgericht Aachen (s.o.) wegen Handels mit Amphetamin, Marihuana und Extasy über das Darknet wurde sein jüngerer Bruder als Haupttäter zu fünf Jahren Haft verurteilt. Der heute 39-Jährige wurde wegen Beihilfe zu zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt.

Kurztrips zwischen Aachen und Thüringen

Ende 2020 war der Aachener in Haft, um seine Resthaftstrafe abzusitzen. Laut Prozessverlauf in Erfurt saß er zugleich wieder wegen anderer Vorwürfe in Untersuchungshaft. Erstmals im Zuge der Ermittlungen gegen die „Turonen“ soll der Aachener demnach als Verdächtiger aufgefallen sein, als im Februar 2020 ein Kurier mit einem Kilogramm Kokain in eine Polizeikontrolle geriet. Die Drogen soll er im Rheinland abgeholt haben. Anhand von Fotos und Daten im Navigationsgerät stellten die Ermittler*innen fest, dass er offenbar in Aachen war und Adressen in Aachen und Alsdorf abgespeichert hatte.

Auch soll der intern als „Wessi“ bezeichnete Aachener selbst nach Gotha respektive Ballstädt gefahren sein und einmal eine größere Summe Bargeld übergeben haben. Im November 2020 soll ein Unbekannter mit dem Aachener nach Gotha gefahren sein und Umzugskartons mit vermutlich Marihuana und Crystal Meth deponiert haben. Kurz darauf holte einer der „Turonen“ diese Kartons ab und wenig später wurden schon neue Drogen an Dritte ausgeliefert. Vorgeworfen wird dem Aachener konkret Beihilfe zur räuberischen Erpressung, vorsätzliche Geldwäsche in mehreren Fällen sowie unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge. (mik)