Jahresrückblick 2023: Regional ist das rechte Spektrum im Aufwind, aber die lokale Querfront verkümmert
Region Aachen. Krisenmodus ist das Wort des Jahres 2023, gefolgt auf Platz 2 von Antisemitismus, auf Platz 6 folgt dann die Umschreibung hybride Kriegsführung und direkt dahinter Migrationsbremse. Diese vier Wörter und Umschreibungen spiegeln auch wider, was regional rechts der Mitte sowie im verschwörungsideologischen Spektrum für Propaganda und Sozialpopulismus genutzt wurde. Dabei stand Aachen sogar einmal auf der großen Bühne der Weltpolitik.
Mit Verwirrung, fehlender Klarheit, mit „Delegitimierern“ und einem Querfront-Gepräge war das Jahr 2022 zu Ende gegangen. Kaum war unser Jahresrückblick redaktionell abgestimmt und online, wurde bekannt, dass das ukrainische Volk und sein Präsident Wolodymyr Selenskyj den Aachener Karlspreis 2023 erhalten. Sofort wurde Aachen zum Ziel hybrider, antiwestlicher und pro-russischer Propaganda. Die Aachener Querfront kündigte Proteste an und an zwei Tagen demonstrierten unter anderem „Freie Linke“, „Querdenker*innen“, Putin-Anhänger*innen, Verschwörungsideologen, Rechte bis Rechtsextreme, „Reichsbürger*innen“ und Antisemiten in Aachen.
Darüber hinaus waren unzählige Menschen mit ukrainischer Migrations- oder Fluchtgeschichte in Aachen auf der Straße. Sie demonstrierten gegen Putins hiesige Propagandist*innen und wollten später am Tag als Mitpreisträger*innen ihrem Präsidenten nahe sein. Wenige Tage danach ehrte die regionale Querfront den Theologen Eugen Drewermann mit einer Art Gegen-Karlspreis. Eine Frau lobte Drewermann mit euphorischer Stimme als „Jesus der Zeit“. Ein Mitinitiator der „Preisverleihung“ wiederholte diese Aussage noch einmal. Drewermann sei „der Jesus der Zeit“, rief der Senior den Umstehenden zu. Bereits im Februar hatte die hiesige Querfront – also Aktivisten aus dem linken bis rechtsextremen Spektrum – vor dem Eurogress gegen die Verleihung des „Ordens wider den tierischen Ernst“ an Bundesaußenministerin Annalena Baerbock demonstriert.
Im Frühjahr tourte der auch als Verschwörungstheoretiker oder -ideologe bezeichnete „Friedensforscher“ Daniele Ganser durch die Schweiz, Österreich und Deutschland – angekündigt auch für Aachen. Den Auftritt im Eurogress am 28. März besuchten rund 1.600 Anhänger*innen. Das Spektrum reichte vom linken bis zum rechten Rand – dabei waren aber auch jene, die sich in der Mitte der Gesellschaft verorten. Der Inspirator predigte, er sei gar kein Prediger. Obwohl die Lokalpolitik beteuerte, solchen fragwürdigen Auftritten künftig keine Bühne mehr bieten und das städtisch betriebene Eurogress nicht mehr an jedermann vermieten zu wollen, bewirbt Ganser inzwischen einen weiteren Auftritt an gleicher Stelle für Mai 2024.
Politik am rechten Rand
Ein bereits in Aachen wegen Beihilfe zum Drogenhandel verurteilter Neonazi wurde im Spätsommer in Erfurt im „Turonen“-Prozess erneut wegen Drogendelikten verurteilt. Im Frühjahr veröffentlichte der ehemalige Neonazi Axel Reitz seine Aussteigerbiografie und attestierte der früheren regionalen Braunszene, zeit- und teilweise aus betrunkenen „Atzen“ bestanden zu haben. Anfang 2023 blickten wir zurück auf eine Serie antisemitischer Taten in Geilenkirchen, die bis Anfang des Jahres andauerte. Mitte 2023 schändeten Unbekannte den jüdischen Friedhof in Würselen und besprühten Grabsteine mit Hakenkreuzen.
Nach dem Hamas-Massaker Anfang Oktober in Israel ist das Thema Antisemitismus und „Israelkritik“ in der Region präsent. Es kam zu israel-solidarischen Kundgebungen und pro-palästinensischen Demonstrationen. Teile der lokalen Querfront, die „Freien Linken“ und Verschwörungsgläubige dockten an letztere an. So hielt etwa ein führender Vertreter der „Freien Linken“ auf einer solchen Kundgebung eine kurze und auf einer zweiten Versammlung eine ausführliche Rede. Der Mann ist inzwischen Mitarbeiter des ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Partei Die Linke, Andrej Hunko. Hunko war zuvor zusammen mit Sahra Wagenknecht aus der Partei ausgetreten und tritt nun als Mitglied des Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) in Erscheinung.
Die AfD hat ihre Strukturen regional ausgebaut und gefestigt, ihre Verbände, Funktionäre und Kommunalpolitiker*innen fallen durch eine wahrnehmbare Radikalisierung auf. In Düren wollte die Partei mit rechtsradikalen und verschwörungsideologischen „Friedensdemos“ punkten, jedoch ohne sich zu erkennen zu geben. Die Versammlungen besuchten auch Vertreter*innen der „Querdenken“-Partei „dieBasis“. Aus eben jenem Spektrum stammten auch Teile der rechten Gegenproteste bei einem Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz in Düren. Ein Unternehmen aus Düren sorgte dabei bundesweit für Schlagzeilen, weil es auf einer großen Plakatwand Botschaften gegen die Bündnis-Grünen und Regierungspolitiker angebracht hatte. Profile in sozialen Netzwerken, Telegram-Kanäle und Chats von Rechtsradikalen, „Reichsbürger*innen“, „Querdenker*innen“, Impfgegner*innen sowie AfD-Anhänger*innen lobten und bejubelten die Aktion. Sie alle verbreiteten entsprechende Inhalte virtuell weiter.
Ein Funktionär der AfD in Stadt und Kreis Düren ist auch maßgeblich in der regionalen „TFP Student Action“ aktiv. TFP steht für „Tradition, Familie und Privateigentum“ und ist ein internationales Netzwerk erzreaktionärer, christlicher Fundamentalisten. Die „TFP Student Action“ führte in Aachen mehrere kleinere Aktionen gegen „Gender-Ideologie“ und „Häresie“ durch, etwa bei der Heiligtumsfahrt. Das europäische Netzwerk „TFP Student Action Europa“ gibt an, seinen Hauptsitz in Aachen zu haben.
Für die strukturelle Entwicklung der AfD steht exemplarisch auch die Fusion der Kreisverbände Aachen-Stadt und Aachen-Städteregion. Diese Verschmelzung zelebrierte die Partei im September in Aachen mit einer Kundgebung. Prominente und radikale Redner waren angereist: Die Spitzenkandidaten für die Europawahl 2024, Maximilian Krah (Sachsen) und René Aust (Thüringen), zudem Markus Buchheit (MdEP), Martin Vincentz (MdL NRW und Landesvorsitzender) und Martin Sichert (MdB aus Bayern). Es gab große Gegenproteste.
„Querdenker*innen“ und „Reichsbürger*innen“
Neben dem Querfront-Spektrum ist auch „Querdenken 241“ marginalisiert und isoliert. Regional gibt es keine anderen „Querdenken“-Gruppen mehr. Eine ursprünglich größer angekündigte Geburtstagsfeier oder -kundgebung drei Jahre nach der Gründung endete mit einem eher privaten Treffen im kleinen Kreis. Zweimal rief „Querdenken 241“ jeweils zu einem „Infotag Impfschäden“ auf und verbreitete im Elisengarten apokalyptische Erzählungen über die Corona-Schutzimpfung und verschwörungsideologische Inhalte. Unterstützt wurde man dabei auch von Vertreter*innen der „dieBasis“ – die Splitterpartei, die ebenso unterdessen eher isoliert agiert, deren Mitglieder gleichwohl auch in Geilenkirchen eine ähnliche Aktion zu „Impfschäden“ unterstützten. Rechte bis rechtsextreme Protagonist*innen, die sich in der Aachener Querfront und bei „Querdenken 241“ engagieren, zeigten sich zuletzt indes sehr unzufrieden damit, dass ihre Mitstreiter*innen inzwischen pro-palästinensische Demonstrationen besuchen, sie unterstützen und dort Reden halten.
Mitte des Jahres kam es zu einem SEK-Einsatz in Simmerath-Strauch. Gegen einen Mann wurde ermittelt, weil er unter anderem volksverhetzende Beiträge und Beleidigungen auf Social-Media-Plattformen sowie Kennzeichen verfassungswidriger, nationalsozialistischer Organisationen gepostet haben soll. Der Mann verbreitet bis heute unter anderem Inhalte aus dem „Reichsbürger*innen“-, rechtsradikalen, verschwörungsideologischen, antisemitischen und QAnon-Spektrum. Zu dem SEK-Einsatz war es gekommen, weil er auf dem Foto eines Postings mit einer Schusswaffe posiert hatte. Dabei soll es sich jedoch lediglich um eine Attrappe oder Anscheinwaffe gehandelt haben.
Wie in der Szene der „Reichsbürger*innen“ oder „Querdenker*innen“ nicht unüblich, bezeichnete der Mann Polizei, Presse und politische Gegner vor und nach dem Einsatz als „Faschos“ und „Nazis“. Polizist*innen hätten keine staatsrechtliche Legitimation – um dies zu „beweisen“, verwendete er Ideologiefragmente aus der „Reichsbürger*innen“-Szene als angebliches Beweismaterial. Im August wurden von ihm virtuell auch Kunstwerke in Postings verbreitet, die etwa Donald Trump und QAnon huldigten, Verschwörungsmythen verbreiteten und der NWO („New World Order“) eine Weltverschwörung unterstellten – mit einem David- beziehungsweise Judenstern im O, also einem erkennbar antisemitischen Code. Gegen den Mann laufen weitere Verfahren – ein Strafprozess ist anhängig.
Laut einer Grafik in dem von CeMAS publizierten Report „Durch die Krise ins Reich“ wird der reichweitenstärkste Kanal aus der Welt der deutschen „Reichsbürger*innen“ im Raum Düren und Aachen betrieben. Es handelt sich um den Telegram-Kanal „Klartext 20/21“, auf dem regelmäßig rechtsextreme, geschichtsrevisionistische, verschwörungsideologische, rassistische und antisemitische Inhalte verbreitet werden. Der Kanal wird von einem ehemaligen Laienschauspieler, Statisten und Frührentner betrieben – dem jegliche medizinische, naturwissenschaftliche, staats- und völkerrechtliche Expertise fehlt. (mik)