Noch mehr Verwirrung und fehlende Klarheit: Delegitimierer und Querfronten [Jahresrückblick 2022]

Region Aachen. Schon im Jahresrückblick 2019 war anzumerken: Angesichts von Verschwörungserzählungen gibt es in der Szene rechts der Unionsparteien ein anschwellendes Wirrwarr und ein für politische Debatten destruktives Verfälschen von (Fach-)Begriffen. Nach rund zweieinhalb Jahren Pandemie haben sich in diesem Sinne ungewöhnliche Querfronten gebildet. Der Verfassungsschutz hat die zunächst widersprüchlich wirkenden und doch gemeinsam agierenden Szenen unter dem sperrigen Label „verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Rechtsstaates“ vereint. Der Beziehungsstatus bei Facebook müsste dabei wohl lauten: Es ist kompliziert…

Exemplarisch begann das noch junge Jahr 2022 mit Geschichtsrevisionismus und Holocaust-Relativierung. Es kam zu einer weiteren Umdeutung des historischen Nationalsozialismus und des politikwissenschaftlich definierten Faschismus-Begriffs. Impfgegner*innen inszenierten sich als Opfer einer „Corona-Diktatur“ respektive eines „Impf-Faschismus“. Impfgegner*innen und Verschwörungsgläubige drohten ihren Gegnern in Politik, Presse und Wissenschaft einen Kriegsverbrecherprozess im Sinne eines „Nürnberg 2.0“ an.

In Aachen ging eine Querfront auf die Straße, die sich gegen Corona-Schutzimpfungen richtete: Linksalternative, vereinzelte Mitglieder der Partei Die Linke, Esoteriker*innen, „Querdenker*innen“, Verschwörungsideologen, Anhänger*innen der Kleinpartei „dieBasis“, Rechtsextreme, „Reichsbürger*innen“, Qanon-Gläubige, Rassist*innen, Antisemiten und AfD-Anhänger*innen. Menschen aus der bürgerlichen Mitte reihten sich ein in solche Demonstrationen. Daraus resultierte die im „Aachener Appell“ formulierte Warnung, mit Feinden der Demokratie solle man nicht kooperieren.

Impfgegner*innen, die sich in ihren Echokammern als Opfer einer „Impf-Diktatur“ wähnen, warfen ihren „Feinden“ – den angeblich neuen „Faschisten“ – sogar vor, „Volksverhetzer“ zu sein. Delegitimierer erstatteten sogar Strafanzeigen gegen Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen wegen des Verdachts der Volksverhetzung. Im Februar nannte ein Esoteriker, der eine Vorlage für solche Strafanzeigen mit entworfen hatte, Keupen bei einer Demo per Megaphon sogar „Antidemokratin [und] Volksverhetzerin. Unserer Oberbürgermeisterin ist eine Volksverhetzerin.“

 

Mitte 2022 entstand aus diesem Spektrum die impffeindliche NRW-Wanderaktion „Straße des Erwachens“. Maßgeblich dafür mitverantwortlich ist eine Frau aus Geilenkirchen, die schon in der Arbeit mit Geflüchteten aktiv war. Involviert ist auch ein „Querdenker“ und FH-Dozent aus Aachen. Wiederholt gab es in diesem Zusammenhang eine Nähe zum sowie Bezüge ins rechte bis rechtsextreme Spektrum. Ende September 2022 kündigte die Geilenkirchenerin an, als Ergänzung zum Hauptthema Impfen ein neues, sozialpopulistisches „Kapitel“ für die Wanderaktion zu erarbeiten und das Thema Energiepreise und Inflation aufgreifen zu wollen („Voll-GAS in die Armut“).

Straftaten und Gerichtsprozesse

2021 waren die rechts motivierten Straftaten in der Region zurückgegangen. Erst im Frühjahr 2023 ist mit Veröffentlichung der Zahlen für 2022 zu rechnen. Gravierende Straftaten mit Bezügen in die Region wurden indes in diesem Jahr juristisch aufgearbeitet. Das Oberlandesgericht (OLG) Düsseldorf stellte Mitte des Jahres fest, dass ein Mann aus Heerlen – dessen Familie irakische Wurzeln hat und der zeitweise in Aachen lebte – Gründer und Betreiber eines antisemitischen virtuellen Netzwerkes war. Das OLG verurteilte den Heerlener mit deutscher Staatsbürgerschaft zu fünf Jahren Haft – wegen Gründung der rechtsextremistischen, antisemitischen Vereinigung „Goyim Partei“ und zahlreicher Volksverhetzungsdelikten.

Das Amtsgericht Geilenkirchen verurteilte am 23. Juni zwei Neonazis wegen der Schändung des jüdischen Friedhofes in Geilenkirchen zu Haftstrafen auf Bewährung. Beide waren in der Neonazi-Gruppe „Syndikat 52“ (S52) aktiv und engagierten sich zur Tatzeit auch im Umfeld der Miniaturpartei „Die Rechte“ (DR). Das Urteil wurde am 15. August rechtskräftig. Es gab überdies einen ungewöhnlichen Beifang in der Sache.

Da bei einer Hausdurchsuchung kurz nach der Schändung auf Datenträgern eines Neonazis mutmaßlich kinderpornografisches Material gefunden worden war, waren im September 2022 noch Ermittlungen anhängig. Der Neonazi war 2014 schon einmal wegen des Besitzes solcher Bilder beziehungsweise Bilddateien verurteilt worden. Zuvor waren solche Inhalte bei ihm schon im Oktober 2013 und im August 2012 bei der Razzia anlässlich des Verbots der „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL) gefunden worden.

Ein schon wegen Drogendelikten verurteilter Neonazi, vor Jahren teils führend in der KAL, der DR und bei S52 aktiv, ist einer der Angeklagten im „Turonen“-Prozess in Thüringen. Der Aachener soll im Grenzland Drogen für das Netzwerk besorgt haben. Der Neustart des Prozesses verlief im Herbst ähnlich schleppend wie die Erstauflage, mittlerweile sind Termine bis Mitte 2023 anvisiert. Vermutlich werden beizeiten Angeklagte aus der Untersuchungshaft entlassen, weil eine solche juristisch gesehen zeitlich begrenzt ist. Eine Haftbeschwerde des Aacheners wurde Ende November aber noch negativ beschieden.

Mitte 2022 kam es zu einer Serie von Sachbeschädigungen und zunächst als rechtsextrem eingestuften Taten gegen das Erkelenzer Grünen-Stadtratsmitglied Manoj Subramaniam (wegen einer früheren Ehe wurde auch der Nachnamen Jansen genannt). Es handelte sich etwa um Hakenkreuz-Schmierereien und ähnliches sowie einen Drohbrief des „NSU 2.0“. Nachdem über Wochen in den Medien über die Schmierereien und Bedrohungen berichtet worden war, teilten die Polizei Aachen und die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach Anfang September in einer Stellungnahme mit, dass sie nunmehr gegen den Grünen-Ratsmann selbst ermittelten.

Die Ermittler*innen gingen davon aus, dass Teile der Sachbeschädigungen und alle rechtsextremen Schmierereien und Drohungen nicht stattfanden oder aber durch Subramaniam (Jansen) selbst initiiert worden waren. Der Lokalpolitiker legte daraufhin sein Ratsmandat nieder und trat aus der Partei aus. Die weitere strafrechtliche Bewertung steht aus. Die rechte bis rechtsextreme Szene schlachtete den Fall gleichwohl bundesweit propagandistisch aus und relativierte dabei tatsächliche politisch rechts motivierte Straftaten und Drohungen.

Landtagswahlen und Parteienlandschaft

Ein prägendes Mitglied des AfD-Kreisverbandes Düren gehört seit der Landtagswahl dem nordrhein-westfälischen Landtag an. Der bisherige NRW-Landesgeschäftsführer Klaus Esser hat dabei eine Nähe zu neurechten, völkischen und burschenschaftlich geprägten Kreisen. Esser bekleidet zudem andere Funktionen, so fungiert er nun auch als stellvertretender Vorsitzender der AfD-Landtagsfraktion und war zuvor schon als Fraktionsvorsitzender der AfD im Kreistag Düren aktiv. Ähnlich wie andere Abgeordnete aus dem neurechten Flügel in der AfD, die dem Bundestag oder den Landtagen angehören, schrieb auch Esser als Landtagsabgeordneter im Juni „Stipendien […] zur Förderung der politischen Nachwuchskräfte“ und „junger Talente“ aus.

 

Schwach besucht war im Landtagswahlkampf eine AfD-Kundgebung in Eschweiler am 30. April. Stargast war die seinerzeitige stellvertretende Parteivorsitzende Alice Weidel. Ihr hörten nur rund 70 Anhänger*innen zu, die aus der gesamten Region und dem übrigen Rheinland angereist kamen. Weitere bekannte Vertreter*innen der AfD waren zudem als Redner*innen angereist: Landeschef Martin Vincentz (Krefeld), die seinerzeit noch als Landtagsabgeordnete fungierende Iris Dworeck-Danielowski (Köln), Christian Loose (Bochum) und der äußerst rechtsaußen verortete Bundestagsabgeordnete Petr Bystron (Bayern).

Deutlich wurde im Zuge des Landtagswahlkampfs, dass es in der AfD Differenzen gab, unter anderem um die Kür der Direktkandidat*innen in der Städteregion. Der Stadtverband Aachen stellte als einer der wenigen in NRW gar keine Kandidat*innen auf. Im Zuge der „Causa Helferich“ wurde Mitte des Jahres auch bekannt, dass die AfD-NRW Parteiausschlussverfahren gegen Markus Mohr (Ratsmann in Aachen) und dessen Bruder Sascha Mohr (Fraktionsvorsitzender im Städteregionstag) eingeleitet hatte.

In der aus AfD-Abtrünnigen bestehenden Fraktion „Dein Stolberg“ kam es Mitte 2022 zu einem heftigen Streit. Der Geschäftsführer der Fraktion wendete sich von dieser ab und erstattete Strafanzeige wegen mehrerer Vorwürfe. Die beiden Mitglieder der Fraktion hielten sich wegen des laufenden Verfahrens zwar überwiegend bedeckt, bewerteten das Handeln des früheren Fraktionsgeschäftsführers – ein Medien- und Werbeunternehmer – indes als Racheakt. In Wahrheit habe man diesen zuvor schon entlassen. Letztgenannter war in die Demonstrationen von „Querdenker*innen“ und Impfgegner*innen involviert und engagierte sich bei „dieBasis“.

Bei den Querfront-Protesten (s.u.) trat die „Querdenken“-Partei „dieBasis“ regional zunehmend verstärkt in Erscheinung. Mitglieder und Funktionäre der Kleinpartei – u.a. aus Würselen und Aachen – organisierten auch die „Mahnwachen“ der Gebühren-Boykott-Kampagne „Leuchtturm ARD“. Diese finden bundesweit wöchentlich statt und wurden respektive werden in Aachen jeweils donnerstags vor dem Studio der WDR-Lokalzeit abgehalten.

Auffallend war, dass Mitglieder und Funktionäre auch mit Personen aus dem rechten Spektrum und der AfD kooperierten oder freundschaftlich verbunden waren. Auch wurden durch „dieBasis“-Mitglieder und deren Funktionäre immer wieder in den sozialen Medien Inhalte der AfD oder solche aus verschwörungsideologischen und rechts-„alternativen“ Medien und Kanälen wohlwollend verbreitet. Nach der Wahl in Italien, die im September 2022 rechtsradikale bis postfaschistische Parteien und Politiker*innen für sich entschieden, verbreitete der Aachener Kreisverband eine Stellungnahme des „dieBasis“-Landesverbandes weiter.

Der Sieg des „konservativen Blocks“ gegen das „linke Brüssel“ liege im europäischen Trend, hieß es darin. Weiter war in der Stellungnahme zu lesen, die Wähler*innen in Italien hätten auch abgestimmt gegen die „Zerstörung des Glaubens [und die Zerstörung] der Familie, der Tradition, der Bürgerlichkeit, der Nation, der abendländischen Zivilisation, bei der alles im Namen von Globalismus, Multikulturalismus, Materialismus, Technokratie, Gender-Ideologie, Hedonismus, Klimahysterie und Transhumanismus ausgehöhlt und diskreditiert werden soll.“ Damit wurden zentrale Argumentationsmuster aus dem rechtsradikalen und neurechten Spektrum durch die „Querdenken“-Partei vertreten.

Querfront als komplizierter Beziehungsstatus

Im Zuge der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und seit November 2021 konkreter gegen das Impfen und die Impfpflicht kam es in Aachen und der Region regelmäßig zu Protesten, „Spaziergängen“ und „Mahnwachen“ an verschiedenen Wochentagen. Nachdem diese in Zeiten der Impfpflicht-Debatte stark angewachsen waren, wirkten sie seit Frühjahr 2022 immer marginalisierter. Zwar wurden Themen wie der Ukraine-Krieg und die steigenden Energiepreise aufgegriffen, dennoch reduzierten sich die Proteste stark. Die Zusammensetzung war weiterhin heterogen und reichte von Links- bis Rechtsaußen.

 

Die Proteste entwickelten sich überdies immer mehr zu Querfront-Veranstaltungen. Unter anderem trat mit Andrej Hunko von Die Linke mehrfach ein Bundestagsabgeordneter als Redner auf. Hunko stieß in seiner eigenen Partei deswegen auf Kritik. „Uns Sahra“ verstieß zudem indirekt gegen eine ältere Stellungnahme des eigenen Kreisverbandes, wonach Linke sich nicht an solchen „Querdenken“- oder Querfront-Protesten beteiligen sollten. Hunko wird den „Wagenknechten“ zugerechnet, die in der Partei für erhebliche Differenzen sorgen.

Als vermeintliche „Friedensdemos“ waren die Querfront-Proteste zuerst Putin-nah geprägt, kritisiert wurden zunächst überwiegend Nato, USA und Bundesregierung sowie vor allem die Bündnis-Grünen. Ein Mitveranstalter aus Würselen sagte etwa Mitte September bei einer solchen Versammlung, man demonstriere gegen das „Terrorregime von Berlin“ und gegen „Führer“ wie Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sowie Vizekanzler Robert Habeck. Themen wie steigende Energiepreise wurden auf sozialpopulistische Art und Weise thematisiert.

Erst mit der Zuspitzung des Krieges, insbesondere nach der von Putin angekündigten Teilmobilisierung und einer Zunahme von Berichten über Kriegsverbrechen durch das russische Militär, formulierte die Querfront dann auch zuvor eher selten geäußerte Kritik an Putin und Russland. In Einzelfällen wirkte das jedoch eher strategisch, um weiterhin als „Friedensbewegung“ auftreten zu können. Denn zugleich blieb man der scharfen Kritik am Westen treu, ebenso wie dem Putin-Narrativ, dass in der Ukraine „Nazis“ bekämpft würden oder deutsche Waffenlieferungen auch „Rechtsextreme“ unterstützten.

Kritisierte man derlei zwar in Reden, schloss man zugleich in Aachen weiterhin Personen aus dem rechten Spektrum nicht aus respektive kooperierte weiter mit solchen. Kritisch reflektiert wurde ebenso nicht, dass Putin ein Autokrat und Nationalist ist – ergo kaum mit einem der Standardparolen der Szene („Frieden, Freiheit, keine Diktatur!“) harmoniert. Deutlich wurde ferner, dass eines der Hauptfeindbilder jener dubios wirkenden Querfront nun die Bündnis-Grünen sind. Sichtbar wurde das unter anderem bei zwei Veranstaltungen.

Am 23. April zogen rund 100 Impfgegner*innen durch Aachen. Der Tross baute sich mit einer regulär angemeldeten Kundgebung auf dem Markt frontal gegenüber einer Wahlkampfaktion der Grünen auf und beschimpfte diese, teils sehr aggressiv, als „Kriegstreiber“. Ähnliches wiederholte sich am 8. Mai bei einer Wahlkampf-Kundgebung der Grünen mit Baerbock auf dem Katschhof. Auch hier agierte die Querfront, erneut waren auch Rechtsextreme und „Reichsbürger*innen“ sowie Antisemit*innen vor Ort. Deutlich wurde ebenso wieder das Zusammenspiel von Vertreter*innen der „dieBasis“ und der AfD.

Ausgerechnet am Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Naziterror zeigten AfD-Anhänger*innen abwechselnd ein selbst gemaltes Plakat mit einem bekannten Zitat des NS-Reichspropagandaleiters und Hitler-Vertrauten Joseph Goebbels. In leicht abgewandelter und geschichtsrevisionistischer Form wurden Baerbock und die Bündnis-Grünen dabei gefragt: „Wollt ihr (wirklich) den totalen Krieg?“ Skandiert wurden Parolen wie „Volksverräter“ und „Kriegstreiber“. Baerbock wurde als „Marionette“ dubioser Strippenzieher, der Nato und der USA dargestellt. Eine Frau rief ihr sogar „Judensau“ zu.

Weiterhin anschwellendes Wirrwarr…

In den letzten Jahren wirkte vieles am rechten politischen Rand bizarr und kurios – oder wirr und durchgeknallt. Auch wenn die Querfront-Szene derzeit – anders als in Zeiten der Impfpflicht-Debatte – isoliert wirkt, wird sie bei steigenden Energiekosten und wachsender Inflation weiter Menschen aus der bürgerlichen Mitte als Mitstreiter gewinnen wollen. Ob ihr das noch einmal so gelingen wird, wie bei den „Impf-Demos“, bleibt abzuwarten.

Ebenso abzuwarten bleibt, wann und ob nach der Großrazzia gegen „Reichsbürger*innen“ und „Querdenker*innen“ Bezüge zu Gleichgesinnten in der Region sichtbar werden. Sich später radikalisierende Beschuldigte und offenbar nicht von den Ermittlungen betroffene Einzelpersonen aus der Region standen zumindest zeitweise bzw. sporadisch in Kontakt. Etwa als Teilnehmer*innen in klandestinen und sektenhaften Strukturen sowie bei der Fluthilfe 2021 im Ahrtal und im Kreis Euskirchen. (mik)