Aussteiger-Biografie des „Hitlers von Köln“: Volltrunkene „Atzen“ und „komplexe Staatstheorie“

Region Aachen/Köln. Im Alter von 13 bis 14 Jahren näherte sich Axel Reitz der Neonazi-Szene an, bald war er ein Teil davon. Später verliehen ihm die Medien den Titel „Hitler von Köln“. Reitz wurde zunächst im Rheinland und dann in Nordrhein-Westfalen ein maßgeblicher Protagonist der braunen Szene. Als solcher hatte er über Jahre Einfluss auf die Szene im Großraum Aachen. Heute wird seine Aussteiger-Biografie veröffentlicht.
Trotz des zunächst jugendlichen Alters war Reitz ab einem gewissen Zeitpunkt ein bekannter Stratege der neonazistischen Szene, bisweilen sogar bundesweit aktiv. Auch wenn andere Kader später immer wieder betonten, so wichtig sei Reitz nie gewesen, war er als Anmelder von Versammlungen und als Redner zeitweise äußerst präsent. Der Pulheimer war zugleich eine Art Paradiesvogel der Szene. Zu Beginn standen Auftritte in uniformartiger Kleidung, äußerst radikale Reden und sein unzweifelhaftes Auftreten als Nationalsozialist. Zeitweise war er Funktionär des kuriosen „Kampfbunds Deutscher Sozialisten“ (KDS), dessen Mitglieder als Kostümfaschisten belächelt wurden.
In späteren Jahren wirkte Reitz – wie bei Aufmärschen in Stolberg und Aachen – in den ihm zu großen Nadelstreifenanzügen oder seinem schwarzen Ledermantel wie ein Maskottchen der Szene. Er war seinerzeit für seine demagogische Hetzreden bekannt. Schon damals erinnerten diese an solche des NS-Propagandaministers Joseph Goebbels. Daher weist er im Buch nicht ganz zu Unrecht darauf hin, dass der mediale Zusatz „Hitler von Köln“ eher unpräzise war. Denn Reitz glich als Redner eher Goebbels, inhaltlich stand er der SA und den „linken“ bzw. „sozialrevolutionären“ Ideen des nationalsozialistischen Strasser-Flügels nahe.
2012 folgte eine Großrazzia im Zuge umfangreicher Ermittlungen gegen das Neonazi-Netzwerk „Aktionsbüro Mittelrhein“ (ABM). Rund 25 einflussreiche Neonazis und deren Mitstreiter aus Nordrhein-Westfalen und dem nördlichen Rheinland-Pfalz saßen danach teils lange in Untersuchungshaft. Reitz war einer davon – zugleich waren weitere Köpfe der Szene inhaftiert, die jahrelang auch in der Region aktiv waren. Neben Reitz, der NPD und der „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL) war auch das ABM in eine Serie von Aufmärschen in Stolberg involviert gewesen (s.u.). Während seiner U-Haft begann der Pulheimer sich von der Szene abzuwenden, musste sich dennoch über Jahre noch mit seinen nunmehr Ex-„Kameraden“ in Koblenz bei einem großen Prozess strafrechtlich verantworten.
Reitz' Einfluss in der Region Aachen
Lange hielten sich Gerüchte, dass Reitz – der schon als Kader ein Autor der braunen Szene war – ein Buch über sein Leben und seinen Ausstieg schreiben würde. Der heute 40-Jährige, unterdessen in der Präventionsarbeit engagiert und in Kooperation mit dem Aussteiger Philip Schlaffer als YouTuber aktiv, legt dazu nun rund 280 Seiten vor. Man erfährt dabei auch Begebenheiten aus der Szene, gleichwohl handelt das Buch manches davon eher punktuell ab. Bestimmte Begebenheiten kommen gar nicht oder nur am Rande vor.
Seine erste öffentliche Rede nach Verbüßung einer ersten Haftstrafe hielt Reitz 2008 in Stolberg, wo seinerzeit Neonazis nach einer Bluttat durch einen Migranten das Opfer zum Märtyrer der braunen Szene verklärten. Infolgedessen kam es jahrelang zu großen fremdenfeindlichen Aufmärschen in der Kupferstadt. Reitz prägte diese Stolberg-Serie gemeinsam mit örtlichen NPD-Verbänden, der KAL und dem ABM mit. Über die Instrumentalisierung schreibt er nun: „Ich spürte überhaupt nicht wie ekelhaft und zynisch das war.“ Andere Aufmärsche wie in Heinsberg und Aachen – etwa an Heiligabend 2008 – werden demgegenüber nicht erwähnt.
Anderes, oft anekdotisch geschildertes, wird demgegenüber ausführlich ausgebreitet. Bekanntere Protagonisten werden namentlich erwähnt und nicht selten endet das wenig schmeichelhaft. Reitz schildert dabei auch Anekdoten aus jenen Tagen, als er mit NPD-Kadern und der KAL Aktionen in der Region Aachen, Düren und Heinsberg durchführte. Wer die regionale Szene kennt und weiß, dass dabei oft sehr viel Alkohol floss und es eher intellektuell schlichte „Kameraden“ alias „biertrinkende Hooligan-Atzen“ (Reitz) zu agitieren galt, findet eben jenes Bild im Buch bestätigt.

Einst platzte die regionale NPD fast vor Stolz, weil der prominente Neonazi-Anwalt Jürgen Rieger als Hauptredner zu einer Veranstaltung angereist war. Das entpuppte sich jedoch bald als doppeldeutige Propaganda. Laut Reitz versagte der intellektuell referierende Rieger seinerzeit völlig vor dem KAL-Publikum. Der Aussteiger skizziert die Zuhörer*innen zudem als Straßenaktivisten und Hooligans. Riegers „komplexe Staatstheorie“ habe an dem Tag gelangweilt. Der Szene-Jurist sei deswegen „bedröppelt“ gewesen. Reitz hingegen, so beschreibt er es selbst, will danach von dem heute wenig schmeichelhaft beschriebenen Publikum als hetzerischer Redner abgefeiert worden sein.
Weniger prominente Kader nennt Reitz nicht namentlich oder nur beim Vornamen. Wer sich in der Szene auskennt, ahnt aber, wer gemeint sein dürfte. Einen wegen seines eher unstetigen Lebens seit Jahrzehnten umstrittenen, aus Aachen stammenden ehemaligen NPD-Funktionär und Hooligan, der bis heute neonazistische Projekte mit organisiert, beschreibt Reitz als Heranwachsenden schon als äußerst windige Figur. Seinerzeit schon bereicherte der heute um die 50 Jahre alte „Kamerad“ sich demnach an der Szene.
Reitz geht auch auf einen Streit zwischen den regionalen NPD-Verbänden und dem NRW-Landesverband ein. Dieser schwelte schon eine Weile, bevor er um 2010 eskalierte und in heftige Machtkämpfe sowie körperlicher Gewalt mündete. Laut Reitz habe der damalige Dürener NPD-Chef dabei unbedingt den Landesvorsitz an sich reißen und die Partei auf einen offen neonazistischen Kurs bringen wollen. Zuvor seien laut Reitz eine längere Zeit über radikalere „Kameraden“ in die Partei eingeschleust worden. Er selbst habe den Dürener Kader als Ghostwriter und Stratege unterstützen wollen.
Zwischen Abenteuer und Selbstreflexion
„Ich war der Hitler von Köln“ liest sich, gerade am Anfang, eher wie ein Abenteuerroman. Das spiegelt möglicherweise die damalige Begeisterung für die „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ bei dem noch sehr jungen Reitz wieder. Es birgt aber auch die Gefahr der Faszination, zumindest in diesen Passagen. Zwar findet sich auch hier schon zuweilen eine gewissen Distanz und Selbstkritik. Aber erst in späteren Kapiteln reflektiert Reitz deutlicher und geizt dann auch nicht mit Selbstkritik.
Reitz wirkte zu seinen Zeiten in der Szene nicht selten wie ein Paradiesvogel, auch seiner Kleindung wegen (s.o.). Er und seine Mitstreiter*innen besuchten damals klassische „Kameradschaftsabende“ auch in der Region Aachen, es wurden NS-„Heldengedenken“ zelebriert, völkisch-traditionalistische „Julfeste“ und „Sonnenwendfeiern“ besucht. Zugleich war Reitz’ eigene „Kameradschaft“ in Köln wohl die einzige in Deutschland, die Treffen und „Jahresendfeiern“ in einem großen Bordellkomplex abhielt. Bis heute kursieren davon Fotos im Netz, die wohl aus einer unfreundlichen Übernahme eines früheren Profils in den sozialen Medien herrühren.
Waren Reitz in der U-Haft Zweifel gekommen, reflektierte er im langjährigen ABM-Prozess Teile seines vorherigen politischen Aktionismus und erkannte den Irrweg: „Bei jedem Prozesstag […], bei jeder Aussage meiner ehemaligen Kameraden, bei jedem verlesenen Telefonprotokoll wurde mir immer klarer, wie sehr ich mich doch verlaufen hatte. Diese Spirale aus Hass, Gewalt, Menschenverachtung und ideologischer Verblendung hatte mich so tief heruntergezogen, dass ich meinen Zynismus gar nicht mehr erkannt hatte. Ich wurde regelrecht blind für die reale Welt.“ (mik)