Das heterogen Sonderbare: "Reichsbürger" im Großraum Aachen

Region Aachen. Rund 120 "Reichsbürger" oder "Selbstverwalter" zählen die Behörden in der Region. Einige davon vertreten rechtsextreme, nahezu alle verschwörungsideologische Inhalte. Bis vor geraumer Zeit gaben Behörden an, dass das Phänomen in der Region eher unbekannt sei. Erst nachdem die "Reichsbürger"-Szene vor rund drei Jahren nach teils schweren Straftaten medial "boomte", schauten die Behörden genauer hin. Zudem scheint es Trittbrettfahrer zu geben. Wer heute als besonders radikal und staatsfeindlich gelten will, schmückt sich in Einzelfällen auch "nur" mit dem Label, obschon ideologisch kaum eine Nähe zu den klassischen "Reichsbürgern" besteht.

Beim Einsatz gegen einen 34-Jährigen in Alsdorf ging die Polizei etwa Ende 2017 auf Nummer sicher. Sie forderte im Dezember 2017 ein Spezialeinsatzkommando (SEK) an. Der als gewalttätig geltende Mann hatte zuvor Menschen mit einer Schreckschusswaffen bedroht und soll auch auf diese geschossen haben. Wenige Tage später drohte er, das Mietshaus zu sprengen, in dem er lebte. Bei zwei Einsätzen fanden die Beamten Drogen, Munition, Schuss- und Hiebwaffen, jedoch keinen Sprengstoff. Der Mann gab an, er sei ein "Reichsbürger". Die Polizei war sich jedoch damals unsicher, ob er wirklich ein solcher war.

Seitdem ein "Reichsbürger" in Bayern im Herbst 2016 einen SEK-Beamten erschossen hat, gehen die Behörden stärker gegen diese vor. Unterdessen sagen manche Menschen, die sich als sehr aggressiv und gefährlich inszenieren wollen, auch sie seien "Reichsbürger". Andere verbreiten zwar in den sozialen Netzwerken deren Propaganda, wollen aber keine sein. Auch sonst geht es unübersichtlich zu. Querulanten und Gernegroße sind aktiv, Kleinstgruppen und Einzelkämpfer gründen ihr eigenes "Reich". Vor Jahren fiel in einer rechtsradikalen Facebook-Gruppe aus Aachen gar ein polnischstämmiger Migrant auf, der "Reichsbürger"-Inhalte postete. Mitte 2018 trollte ein "Reichsbürger" in Aachen sozusagen außerhalb des Webs mittels Kreidebotschaften. Er hinterließ etwa in Großbuchstaben die Internetadresse zu einer Homepage von "Reichsbürgern", auch auf einer Mauer am Dom. Bei seinen Stadtrundgängen ließ der junge Mann via Boombox akustisch Reden mit ähnlichen Inhalten erklingen.

Mitte des Jahres gaben die Behörden an, in NRW lebten rund 3.200 "Reichsbürger" und "Selbstverwalter". Nur 100 davon würden der rechtsextremen Szene zugerechnet. Alle erkennen die Bundesrepublik nicht als Staat an oder bestreiten deren Souveränität. Sie sprechen dem Grundgesetz, Behörden und Gerichten die Legitimität ab und akzeptieren keine amtlichen Bescheide. Sie glauben an Verschwörungstheorien, oft meinen sie damit eine "jüdische Weltverschwörung". Für sie bestehen das "Deutsche Reich" oder etwa ein "Königreich Preußen" fort, die Bundesrepublik wird als eine "Firma" oder "BRD GmbH" diffamiert. "Reichsbürger" begründen den Fortbestand des "Reiches" mit unterschiedlichen historischen Entwicklungen. Manche beziehen sich auf Daten vor dem Zweiten Weltkrieg oder aus dem Kaiserreich, andere behaupteten, dass "Deutsche Reich" der Nationalsozialisten habe 1945 nicht kapituliert und bestehe daher bis heute fort.

Fast 120 regionale "Reichsbürger" und "Selbstverwalter"

Unterdessen hat die NRW-Landesregierung auf Anfragen regionaler SPD-Abgeordneter Zahlen über "Reichsbürger und "Selbstverwalter" in der Region mitgeteilt. Im August 2019 lebten demnach im Kreis Düren 36 "Reichsbürger". Sie wohnen in Aldenhoven (2), Düren (5), Hürtgenwald (1), Inden (2), Jülich (7), Kreuzau (2), Langerwehe (6), Linnich (3), Nideggen (1), Niederzier (2), Nörvenich (2), Titz (1) und Vettweiß (2). Im Kreis Heinsberg verorteten die Behörden 32 "Reichsbürger". Sie leben in Erkelenz (8), Gangelt (1), Geilenkirchen (2), Heinsberg (1), Hückelhoven (4), Selfkant (3), Übach-Palenberg (1), Waldfeucht (2), Wassenberg (6) und Wegberg (4). Angaben über die Städteregion stammen aus September. Dort leben 51 "Reichsbürger": In Aachen (19), Alsdorf (3), Baesweiler (4), Eschweiler (11), Herzogenrath (6), Stolberg (4), Würselen (3) und Roetgen (1).

Eine Heilpraktikerin aus der Voreifel war Anmelderin der "Gelbwesten"-Proteste gegen die Unterzeichnung des deutsch-französischen Freundschaftsvertrages am 22. Januar. Die Kundgebung gegen Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron war von Aktivisten aus dem rechten und fremdenfeindlichen Spektrum sowie Verschwörungsideologen aus ganz Deutschland geplant worden. Es nahmen AfD-Mitglieder, Fremdenfeinde, Rechtsextremisten und "Reichsbürger" teil. Auch an späteren Protesten dieser rechten "Gelbwesten" nahmen "Reichsbürger" teil. Die Nähe zu einzelnen Mitgliedern der AfD scheint dabei nicht zwingend unlogisch. Ein AfD-Mann aus dem Kreis Düren verbreitete etwa im Dezember 2018 Inhalte von "Reichsbürgern" via Facebook.

Trotzdem ist die Szene heterogen. Ein Aachener, der bei den Behörden als psychisch auffällig gilt und seit Jahren Wahlplakate großflächig beschmiert, versteht sich eher als Linker. Er besuchte als Zuhörer Wahlkampfkundgebungen der Partei "Die Linke", beschmierte ausdrücklich wegen der Politik der Partei deren Wahlplakate nicht und bewegte sich zum Teil in zwar provokanter, aber nicht störender Weise am Rande der Großdemonstration von "Fridays for Future" Mitte 2019. Zugleich besuchte der Aachener Versammlungen rechtsextremer "Reichsbürger" in Berlin, hielt dort auch Reden. Er begründete dies später damit, er habe dort nur provozieren wollen. In der Vergangenheit war er aber auch kurz Teilnehmer einer rechten "Bürgerstreife" und nahm am Aufmarsch von "Pegida" in Aachen teil.

An der Peripherie zur extremen und fremdenfeindlichen Rechten

Wie heterogen diese Szene ist, bewies kürzlich auch ein Rechtsanwalt aus Selfkant. Der Jurist aus dem Kreis Heinsberg scheitere am 20. September 2019 am Verwaltungsgericht Aachen mit dem Ansinnen, dass die Kreisverwaltung ihm bestätigen solle, Staatsangehöriger des "Bundesstaates Königreich Preußen" zu sein. Am selben Tag entschied das Verwaltungsgericht über Klagen von "Reichsbürgern", die Kammer verhandelte sie deswegen unter erhöhten Sicherheitsmaßnahmen im selben Saal. Der Jurist selbst argumentierte zwar ähnlich wie diese, wollte indes laut Lokalpresse kein "Reichsbürger" sein. Gleichwohl hat er etwa auf seiner Homepage und in einem Buch Texte publiziert, die die Souveränität der Bundesrepublik in Frage stellen.

Zudem tat sich der Jurist hervor durch Petitionen und Strafanzeigen unter anderem gegen Politiker, die zuerst argumentativ-inhaltlich solchen aus der Friedensbewegung glichen, unterdessen indes eher inhaltlich Versatzstücke aus der rechtsextremen Szene transportieren. Im Mai 2019 erstattete er nach eigenen Angaben etwa bei der Generalbundesanwaltschaft Strafanzeige gegen Bundeskanzlerin Angela Merkel "wegen Beteiligung am Völkermord zum Nachteil der deutschen Völker". Der Anwalt setzte die Strafanzeige in einen Kontext mit dem Zuzug von Flüchtlingen und Migranten. An den Deutschen werde durch die "Populationsbombe [zwecks] Züchtung einer hellbraunen Mischrasse" und die "inszenierte Massenmigration" der "wahrscheinlich abscheulichste Rassismus des 21. Jahrhunderts verbrochen", schrieb er in der Anzeige. Seiner Meinung nach drohe ein "schleichender Genozid". Medien und Webseiten aus dem rechten Spektrum feierten den Anwalt deswegen wie einen Heiland.

Juristisch scheiterte Ende Oktober 2019 ein Mann am Verwaltungsgericht Aachen, der gegen seine Kündigung im Hochsicherheitsbereich der ehemalige Kernforschungsanlage Jülich klagte. Entlassen worden war er, weil er sich wie ein "Reichsbürger" verhalten hatte. Das Gericht stellte nicht fest, ob der Mann ein solcher gewesen sei oder immer noch sein könnte. Durch sein Verhalten zuvor sei er jedoch für seinen Tätigkeitsbereich tatsächlich nicht mehr tragbar, so die Kammer.

Das Prinzip Fragesteller: Störung, Zweifel oder Bestätigung wanted?

Angestellt war der Mann als Mitarbeiter der Jülicher Entsorgungsgesellschaft für Nuklearanlagen (JEN). Er war als Strahlenschutz- und Sicherheitsbeauftragter mit dem Rückbau des früheren Versuchsreaktors des Forschungszentrums Jülich befasst. Alle Mitarbeiter in dem atomaren Sicherheitsbereich werden regelmäßig auf ihre Zuverlässigkeit hin überprüft. Bis 2016 galt der Mann als zuverlässig, später allerdings kamen der JEN und dem zuständigen Ministerium Zweifel.

Zwar bestritt der Kläger, selbst "Reichsbürger" zu sein, zugleich gab er indes zu, dass etwa Infos von Webseiten aus jener Szene ihn fasziniert hätten. Nur um das zu überprüfen habe er Behörden und Ministerien angeschrieben und um Klärung der sich im deswegen stellenden Fragen gebeten. Während der Mann dabei vorgab, er habe immer nur Fragen gestellt, die sich ihm als juristischen Laien gestellt hätten, wies der Jurist des ehemaligen Arbeitgebers darauf hin, dass er sehr wohl gegenüber Behörden und Ministerien auch zahlreiche Behauptungen aufgestellt habe.

Unklar blieb im Prozessverlauf, warum ein normaler Arbeiter der lediglich von den Publikationen der "Reichsbürger" fasziniert sein wollte, sich dazu berufen fühlte, wegen seiner Fragen nahezu nur höchste Behörden und Ministerien anzuschreiben. Erörtert wurde auch nicht, dass derlei Tun zumindest teilweise zur Taktik von "Reichsbürgern" gehört. Sie wollen damit nicht eigene Zweifel ausräumen, sondern Behörden teilweise mittels Anfragen lahm legen. Ebenso hoffen sie möglicherweise anhand von Antworten, die ihre Ideologie eventuell stützen könnten, eigene Thesen und Verschwörungsideologien in neuen Schreiben damit dann untermauern zu können.

Spätestens 2017 fiel jener Jülicher wegen seinem Handeln dem Verfassungsschutz auf, der den Arbeitgeber informierte. Es folgte zuerst der Entzug der Zuverlässigkeit, dann ein Wechsel auf einen anderen Posten und letztlich die Entlassung. Das Verwaltungsgericht Aachen wertete diese am 28. Oktober als rechtens. Der Vorsitzende begründete die Bestätigung der Kündigung damit, dass über die Jahre "viele Dinge zusammen gekommen" seien mit einer Nähe zu "Reichsbürgern". Daher bestünden zurecht bei dem Arbeitgeber Zweifel darüber, ob er für einen sicherheitsrelevanten Bereich geeignet sei. Die Tätigkeit in dem Hochsicherheitsbereich verlange eine ganz besondere Zuverlässigkeit und Verfassungstreue.

Laut Bericht der Aachener Nachrichten/Zeitung ist eine ähnliche Klage eines weiteren Mitarbeiters der JEN derzeit anhängig. Der Anwalt des entlassenen Jülicher wies in dem Prozess allerdings auch darauf hin, dass sein Mandant nicht der rechten Szene angehöre oder deren Meinungen vertrete. Laut Verhandlung hatte der Mann sich in keinem Falle offen antisemitisch geäußert und lediglich in einem Fall bezüglich Nazideutschland und dem Zweiten Weltkrieg geschichtsrevisionistisch. Dies unterscheide, sagte der Anwalt, das Handeln seines Mandanten von dem vieler anderen "Reichsbürger". (mik)