Rechtsextreme Intensivtäter: Der Nachwuchs von „Syndikat 52“ in Aachen

Aachen. Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremisten und AntifaschistInnen gibt es seit langem in Aachen. Trugen sie sich vor zehn bis zwölf Jahren meist in der Pontstraße und rund um das Autonome Zentrum (AZ) zu, gerieten vor zwei bis drei Jahren ältere Rechtsextremisten im Frankenberger Viertel immer wieder mit AntifaschistInnen und Linksradikalen aneinander. Unterdessen ist eine noch minderjährige, gleichwohl stark radikalisierte neue Generation herangewachsen. Eine Entwicklungsgeschichte.

Wann alles begann? Im Oktober 2015 vielleicht, als zwei Halbwüchsige einen Reisetross regionaler Hooligans und Rechtsextremisten zum Aufmarsch der „Hooligans gegen Salafisten“ (HoGeSa) in Köln begleiteten und der „Event“ sowie das Gemeinschaftsgefühl sie anfixte? Oder war es die Nacht zum 22. April 2017, als man erstmals großflächig Neonazi-Aufkleber in Burtscheid verklebte und selbstbewusst auch PKW mit linken Aufklebern mit solchen von „Syndikat 52“ (S52) beklebte? Oder war es der Moment, als man vom Verkleben aufgeputscht am Morgen desselben Tages noch provokativ am „Autonomen Zentrum“ (AZ) vorbeischaute, um sich versammelnde AntifaschistInnen zu beobachten, die gemeinsam mit dem Zug zu den Protesten gegen den AfD-Parteitag in Köln fahren wollten? Und dann einer von drei fast noch kindlichen Neonazis ein Messer zückte, seiner Meinung nach um Übergriffe und Schläge der Linken abzuwehren, die die damals schon als Rechtsextremisten aufgefallenen Jungen bedrängten und vertreiben wollten?

Am 29. April 2017 „outete“ die Antifa einen der Minderjährigen namentlich im Internet, Überschrift „Messerangriff durch Jungnazis“. Damals schätzte sie in ihrem entsprechenden Text auf einem linksradikalen Internet-Portal das Alter des Trios von jenem Morgen auf zirka 13 bis 15 Jahre. Die Angaben trafen in etwa zu. Mittlerweile sind die Personen 16 bis 17 Jahre alt bzw. auf dem Sprung in die Volljährigkeit. Messer wurden seitdem nicht nur einmal gezückt, der Verdacht reicht dabei von bewaffneten Bedrohungen gegen Menschen, die als politische Gegner eingestuft wurden bis hin zu platt gestochenen Fahrradreifen u.a. bei einem Lokalpolitiker oder zerstörten Reifen an Autos im linksalternativen Frankenberger Viertel, die dank linker oder antifaschistischer Aufkleber als Besitz des „Feindes“ erkennbar waren. Markenzeichen: Nach Möglichkeiten werden immer alle Reifen platt gestochen. Zuweilen werden am Tatort oder in der Nähe Aufkleber oder Flyer von S52 oder der neonazistischen Miniaturpartei „Die Rechte“ (DR) hinterlassen. Trotz des jungen Alters fühlt man sich so sicher und glaubt, dass einem die Polizei eine Tat nicht nachweisen kann, dass man sogar selbstbewusst eine Art Visitenkarte hinterlässt.

Rache an einer „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“?

März 2019: Die Neonazi-Gruppe „Syndikat 52“ (S52) weist im Internet auf Besuche von Polizei und Staatsschutz bei ihren minderjährigen Mitgliedern und deren Eltern in Aachen hin. Anlass für die „Gefährder-Ansprachen“, wie es im Behördendeutsch heißt, ist seinerzeit ein seit Monaten andauernder Psychoterror gegen als „Feinde“ deklarierte Menschen sowie eine Reihe weiterer Straftaten und Aktionen, die kurz vor Beginn der Sommerferien 2018 stetig zugenommen haben. Betroffen sind Menschen und Lokalpolitiker in Burtscheid, im Frankenberger Viertel und der Gegend rund um die Südstraße.
Ermittlungen laufen oder liefen zu diesem Zeitpunkt unter anderem wegen Volksverhetzung, Verwendens verfassungsfeindlicher Kennzeichen, Sachbeschädigung, Diebstahl, Körperverletzung, Bedrohung und Hausfriedensbruch. Die S52-Aktionen aus den Monaten zuvor haben sich seinerzeit nicht nur gegen das private Umfeld von „Feinden“ gerichtet, sondern überdies gegen das AZ, gegen Schulen, zudem gegen Parteibüros und Lokalpolitiker. Bezeichnend für die Radikalität der Minderjährigen ist ein Vorfall zum Ende des Schuljahres 2018 hin: In der Nacht vor einer am Morgen geplanten Entlassfeier bekleben Vertreter von S52 eine Sekundarschule umfangreich mit den Aufklebern der Gruppe. Zudem wird in der Tatnacht das Schild, das die Schule als „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ ausweist, mit dem nötigen Werkzeug abmontiert und gestohlen. In einer Abschlussklasse war, wie sich später herausstellen wird, einer der minderjährigen S52-Aktivisten. Will man sich also an der „linksrotgrünversifften“ Schule rächen?

Im Frühjahr 2019 publizierte S52 Beiträge in den sozialen Medien, dass eigene Mitglieder im Rahmen des „Die Rechte“-Europawahlkampfs Mitte März unmittelbar an der Synagoge und am Synagogenplatz in Aachen Flyer für die verurteilte und inhaftierte Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck verteilt sowie israelfeindliche Aufkleber verklebt hätten. Zwar sind die S52-Aktivisten auf den dazu selbst veröffentlichten Fotos anonymisiert. Doch durch einen Flüchtigkeitsfehler ist kurzzeitig auch ein nicht verpixeltes Foto eines Jugendlichen im Internet zu sehen; zugleich nutzt dieser Minderjährige selbstbewusst ein nur geringfügig anonymisiertes Foto, das ihn bei der Flyer- und Aufkleberaktion an der Synagoge zeigt, als Profilbild auf seinem eigenen Socialmedia-Profil. Der Jugendliche ist zeitgleich offenbar auch schon mitverantwortlich für die Verwaltung der S52-Seiten auf Instagram bzw. Facebook. In dem oben erwähnten Text zu den Gefährder-Ansprachen beklagen S52 bzw. DR, es seien „vor allem junge Aktivisten [von der Polizei] unter Druck“ gesetzt worden – wegen ihrer „Freizeitaktivitäten“.

Verniedlichende Beschreibungen und Fake News wie diese sind in jenen Tagen bei derartigen Veröffentlichungen nicht selten. Nachdem die schon damals mehrfach aufgefallenen jungen Neonazis in der Halloween-Nacht 2018 provokativ am AZ vorbeischauen wollten und heftig mit Linken aneinander geraten waren, publizierten S52 und DR Texte, wonach „Linksextreme zwei minderjährige Passanten [...], die sie evtl. für Rechte hielten“ mit Schlagstöcken und Pfefferspray angriffen und verletzten. Voran gegangen sind da schon ähnliche Situationen, immer wieder ist es zu Provokationen und Auseinandersetzung mit jenen „minderjährigen Passanten“ gekommen, die zugleich immer wieder erneut die Konfrontation mit AntifaschistInnen gesucht haben und auch weiter suchen. Einer der beiden besonders oft aufgefallenen Neonazis schreibt bald auf seinen Profilen in den sozialen Medien: „Antifaschisten laufen uns übern Weg, wir hauen drauf – wie nicht ganz bei Trost, Kampfgruppe AC!“

DR-Wahlkampf als legalisierter Psychoterror

Vorerst kehrt nach den Gefährder-Ansprachen Anfang 2019 etwas Ruhe ein um die Clique der jungen Neonazis, die nun immer mehr auch offiziell als S52-Ableger in Aachen firmiert. Doch im Europa-Wahlkampf 2019 hängen die überwiegend minderjährigen S52- und DR-Mitglieder ab April Plakate der Partei „Die Rechte“ auf. Allerdings können sie zu Fuß meist nur im Umfeld der beispielsweise elterlichen Wohnungen in Burtscheid mit Leitern und Plakaten losziehen und lediglich in einem begrenzten Radius plakatieren. Oft hängen die jungen Neonazis gezielt Plakate auch viel lieber direkt im Umfeld der Wohnungen von „Feinden“ auf oder an Straßen und Wegen, die diese gelegentlich nutzen. Nach vorangegangenem Psychoterror gegen die „Feinde“ und Beschädigungen an deren Eigentum, nutzen die Neonazis nun ihre Plakate und Flyer, um sie und die Nachbarn in teils abgelegenen und kaum frequentierten Nebenstraßen unter dem Deckmantel legaler Parteiarbeit weiter drangsalieren zu können.

Unbekannte hängen die Plakate zwar oft rasch wieder ab, in anderen Fällen geraten Anwohner mit den Neonazis jedoch wegen der provokativen Plakate aneinander. Im Wohnumfeld der „Feinde“ und Nachbarn, die in Streit mit den Minderjährigen geraten sind, werden kurz darauf wieder massiv rechtsextreme Aufkleber u.a. von DR und S52 verklebt, in anderen Fällen werden Privateigentum oder Verteilerkästen der Stawag mit Hakenkreuzen, SS-Runen und dem Wort „Nazi Kiez“ besprüht – in einem Fall wird auch eine Wolfsangel gesprüht. Das Symbol nutzen heute zwar noch Jäger, im nationalsozialistischen Kontext gesehen bedeutet es jedoch, dass nun die „Wolfszeit“ beginne und man sich auf die Jagd nach den „Feinden“ mache.

Für ihr sehr junges Alter ist die sehr kleine Gruppe der Neonazis nicht nur außerordentlich aktiv und radikalisiert, sondern auch erstaunlich gut geschult. Die Minderjährigen wissen, wie weit sie rechtlich gehen können ohne größere Probleme mit der Justiz zu bekommen oder welches Symbol ihre „Feinde“ erkennen und ebenso deuten können. Zugleich wächst das Selbstbewusstsein. Vorschub leistet dem, dass die angegriffenen Personen aus Angst oder wegen ihres eigenen Misstrauens gegenüber der Polizei keine Strafanzeigen erstatten. In anderen Fällen hat die Polizei die jungen Neonazis zwar im Verdacht, viele der Straftaten begangen zu haben, kann ihnen dies aber meistens nicht nachweisen. Mitte Mai 2019 teilt die Polizei dann per Pressemitteilung mit, sie ermittele gegen zwei 17 und 20 Jahre alte Neonazis von S52, weil sie in der Innenstadt zwei Heranwachsende mit einem Messer bedroht und verfolgt haben sollen.

„Wolfszeit“ heißt, Gegner werden körperlich attackiert

Zugetragen hat sich der Vorfall mit dem Messer am frühen Sonntagmorgen des 19. Mai. Ein 21-jähriger Mann und eine 20-jährige Frau sind dabei von zwei Personen gegen 3 Uhr in der Nähe des Hauptbahnhofes und des benachbarten AZ mit einem Messer bedroht worden. Als das Paar sich entfernen will, verfolgen die beiden Neonazis sie noch mit gezücktem Messer, bevor man sie dann doch in Ruhe lässt. Kurz darauf treffen die Opfer zufällig die ihnen bis dahin unbekannten Verfolger im Hauptbahnhof wieder und informieren Bundespolizisten. Bei der Durchsuchung der Tatverdächtigen aus Aachen und Gangelt finden die Polizisten ein Klappmesser, ein Reizstoffspray sowie Flyer und Aufkleber von S52.

Minderjährige von S52 haben in der Vergangenheit unzählige Male im Umfeld von Hauptbahnhof und AZ Aufkleber verklebt, Hakenkreuze gesprüht und die Konfrontation mit Personen gesucht, die sie optisch dem linken politischen Spektrum zuordnen. Möglicherweise haben sie auch die nun verfolgten und attackierten Heranwachsenden optisch als Linke eingeordnet. Mutmaßlich in derselben Nacht mit dem Messervorfall sind erneut eine nahe gelegene Schule und benachbarte Straßen mit Aufklebern von S52 beklebt worden. Der gestellte 17-Jährige ist zuvor mehrfach aufgefallen, es ist auch derjenige, der Mitverantwortung für die S52-Onlineauftritte getragen haben soll. Er gehört zudem Ende Juni zu einer vierköpfigen S52-Besuchergruppe bei einem AfD-Abend in der Klangbrücke. Das minderjährige Neonazi-Quartett trifft an diesem Tag verspätet ein, es kommt zu gegenseitigen Provokationen mit GegendemonstrantInnen aus dem linken Spektrum vor der Tür des Veranstaltungsortes, bevor man die vier Neonazis dann einlässt.

Am 5. September 2019 teilten Antifaschisten auf einer linksradikalen Internetseite nun mit, dass es seit dem Sommer 2018 häufig zu neonazistischen Provokationen und Angriffsversuchen rund um das AZ und im Frankenberger Viertel gekommen sei. Im Umfeld der Sommerferien 2019 hätten sich neue Übergriffe und Provokationen gesteigert. Als Täter und Tatverdächtige weist man auf jene S52-Clique mit den beiden besonders oft aufgefallenen Jugendlichen hin, die schon 2015 mit zu HoGeSa gefahren und dann 2017 am AZ erstmals durch das Zücken eines Messers aufgefallen sind. Wiederholt, teilen die Antifaschisten nun mit, sei Menschen, die das AZ besucht hätten, aufgelauert worden, sie seien von den minderjährigen Neonazis bedroht oder beleidigt worden. Hingewiesen wird konkret noch auf einen Angriff in der Nacht von Samstag (31.8.) zu Sonntag (1.9.), wobei drei junge Neonazis – zwei davon hinlänglich bekannt – AZ-BesucherInnen aufgelauert und einer Person mit einem Gegenstand auf den Kopf geschlagen hätten.

Schon zwei Tage nach dem geschilderten Vorfall, also am 3. September, marschieren die Minderjährigen am späten Nachmittag erneut am AZ auf. Laut Antifa sind sie dabei mit einer Holz- oder Metallstange bewaffnet. Nachdem AntifaschistInnen sich ihnen entgegengestellt hätten, sollen sich die Neonazis auf den Bahnhofsvorplatz zurückgezogen, gepöbelt und den Hitler-Gruß gezeigt haben. Letztlich rückt die Polizei mit mehreren Streifenwagen an und erteilt den Neonazis Platzverweise. Rechtsextreme geraten später am Elisengarten erneut mit Linken aneinander, die sich nun mit leichten Blessuren an die Polizei wenden. Die Polizisten stellen ein tatverdächtiges Trio. Wie oftmals zuvor sind erneut jene zwei Jugendliche dabei, die auch schon Ziel von Gefährder-Ansprachen waren. Im Polizeibericht heißt es: „Die bereits einschlägig bei der Polizei bekannten und der rechten Szene zugehörigen 16- bis 17-Jährigen wurden dem Staatsschutz übergeben. Zwei von ihnen waren bereits zuvor am Autonomen Zentrum aufgefallen und kontrolliert worden. Gegen alle drei wird nun u.a. wegen vorsätzlicher Körperverletzung ermittelt.“

Suche nach einem Anwalt als rechtsextremer „Event“...

Und sonst? Geschädigte tragen zuweilen hohe Kosten und einen zusätzlichen Arbeitsaufwand. Der Hausmeister einer städtischen Schule hat etwa in mühsamer Kleinarbeit eine Fensterfront von Aufklebern säubern müssen. Die Schulleitung selbst hat Mitte 2018, geschockt von den Aufklebern und dem Diebstahl des Schildes, die Entlassfeier wenige Stunden nach der Tat für alle Schülerinnen und Schüler abgesagt und diese ohne Feier – vorerst – wieder nach Hause geschickt. Hinzu kommt seit Jahren sehr viel Arbeit für die Polizei. Unterdessen könnten den Minderjährigen oder den Eltern auch Schadenersatz- oder Schmerzensgeldansprüche drohen, sollten Taten nachgewiesen werden – oder einer der Jugendlichen einmal „auspacken“. Eltern und Erziehungsberechtigte haben überdies ihre Kinder sporadisch bei der Polizei abholen müssen, da Minderjährige üblicherweise in der Nacht nicht alleine den Heimweg antreten sollten. Zur „Erlebniswelt Rechtsextremismus“ dürfte wohl unterdessen auch die Suche nach einem Anwalt gehören. (mik)