Leugnen light: Im Zuge der Proteste von Impfgegner*innen wird der Naziterror zur Petitesse

Region Aachen. Angesichts neuer Corona-Schutzmaßnahmen und der Debatte um eine Impfpflicht haben sich seit Dezember 2021 illegale „Spaziergänge“ und angemeldete Demonstrationen durch Impfgegner*innen im Großraum Aachen intensiviert. Sie finden in kleineren Kommunen teils regelmäßig mit 10 bis 30, in manchen Kleinstädten mit rund 100 und in Düren oder Aachen nicht selten mit mehreren hundert Personen statt. Zugenommen hat in den letzten Wochen dabei auch eine Relativierung des Nationalsozialismus und des Holocaust.

Holocaust-Leugner*innen, Antisemit*innen und Rechtsextreme haben sich seit Jahrzehnten darum bemüht, die Schrecken der NS-Gewaltherrschaft zu relativieren oder abzustreiten. Dies gelang ihnen nur begrenzt oder sie artikulierten die Leugnung bzw. ihren Hass auf Jüdinnen und Juden so offen, dass es abschreckend wirkte und zu strafrechtlichen Schritten und Verurteilungen kam. Jens Maier von der AfD-Sachsen sagte einst im Sinne von Parteifreund*innen, der „Schuldkult“ müsse enden und AfD-Rechtsextremist Björn Höcke sprach 2017 davon, man benötige eine 180-Grad-Wende in der deutschen Erinnerungspolitik. Der heutige AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland sagte 2018: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000-jährigen Geschichte.“ Im Zuge der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und das Impfen inszenieren sich seit rund zwei Jahren Teile der „Querdenker“-Szene und deren Umfeld als „Widerstandskämpfer*innen“ und „Antifaschist*innen“ bzw. als „Verfolgte“ einer „Corona-Diktatur“ respektive des „Hygiene-Faschismus“.

Kontext ist die Mutter der ganzheitlichen Analyse

Bundesweit Schlagzeilen machten Vergleiche aus jenen Kreisen, etwa wenn Menschen sich mit kaltblütig ermordeten Nazigegner*innen wie Sophie Scholl oder Opfern des NS-Terrors wie Anne Frank verglichen. Feststellbar ist längst, dass jene Kreise auf diese Weise das Naziregime weitaus effektiver verniedlicht, relativiert und zum Teil auch geleugnet haben, als es die bis dahin klassische Szene der Holocaust-Leugner*innen seit Jahrzehnten vermochte.

„Querdenker*innen“ und andere Maßnahmengegner*innen haben solche fragwürdigen Meinungen und Fake-News unterdessen in die Mitte der Gesellschaft transferiert, so dass Menschen, die zuvor Holocaust-Leugner*innen wegen ihrer Radikalität ablehnten zumindest Teile der unsäglichen Vergleiche wahrgenommen, „wertfrei“ diskutiert und teils auch schon polemisch oder inhaltlich übernommen haben. Auch in der Region gab es seit Beginn der Pandemie solche Vorfälle, gleichwohl lässt sich seit einiger Zeit feststellen, dass diese zunehmen. Sie werden von Menschen artikuliert, die sich selbst als „Linke“ oder „Friedensbewegte“ einordnen oder die Esoteriker*innen, Verschwörungsideolog*innen, Antisemit*innen und „Reichsbürger*innen“ sind bzw. der rechten bis rechtsextremen Szene angehören.

Ein Beispiel für das diffuse Herangehen und Crossover von politisch nicht kompatibel erscheinender Aktivist*innen war etwa eine Demonstration mit rund 1.600 Menschen am 8. Januar in Aachen. Aufgerufen dazu hatte offiziell das Bündnis „Nein zur Impfpflicht“. Diesem gehören die verschwörungsideologischen „Aachener für eine menschliche Zukunft“, „Querdenken 241“ und die beiden Splittergruppen „Freie Linke Aachen“ sowie „Arbeitskreis GewerkschafterInnen Aachen“ an. Beworben wurde die Demonstration aber auch umfangreich von der AfD und der „Querdenken“-Partei „dieBasis“.

„Nie wieder Faschismus“ – „Nie wieder Eugenik“

Für diese Demonstration hatten Mitveranstaltende bzw. Menschen aus deren Umfeld viele selbstgemalte Pappschilder vorbereitet. Alle, die wollten, konnten sich daran bei der Auftaktkundgebung im Kurpark bedienen. Die Parolen der Schilder wirken zuweilen völlig unverfänglich und sind für Außenstehende nicht immer klar einzuordnen. Aber insgesamt betrachtet ist das „Gesamtwerk“ ahistorisch, geschichtsrevisionistisch sowie den Holocaust und den Naziterror relativierend. Eine Frau trug etwa ein Schild mit der Losung „Nie wieder Faschismus!“, zwei Männer Schilder mit „Stoppt die Faschos!“. Doch waren damit der Faschismus und die Faschisten im historischen Kontext gemeint? „Stoppt den Pharma-Faschismus!“ und „Stoppt die Pharma-Faschisten!“ war etwa auf anderen Schildern zu lesen. Auf einem anderen Plakat stand: „Stoppt Experimente!“

Ein AfD-Mann aus Herzogenrath trug ein Schild mit der Losung: „Impfpflicht = Faschismus!“ Mindestens vier andere Teilnehmende rückten auf ihren Plakaten die Impfungen in die Nähe der Eugenik („Nie wieder Eugenik!“; „Stoppt die Pharma-Eugenik!“). Sie verglichen also das Impfen mit der „Rassenhygiene“ in Nazideutschland. Zwei Frauen und ein AfD-Sympathisant zeigten auf ihren Schildern lediglich das Wort „Nürnberger Kodex“. Außenstehende können derartige Losungen oft nicht dechiffrieren. In der Szene der Impfgegner wird indes das Impfen als „Gen-Experiment“ (s.o.) und „Menschenversuch“ bewertet, Mediziner werden in die Nähe des KZ-Arztes Josef Mengele gerückt. Regierung und Politik, Wissenschaft und Forschung, Medizin und Medien wird dabei mit einem „Nürnberg 2.0“ gedroht, also einem neuen Kriegsverbrecher-Prozess wie nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Nürnberg gegen Nationalsozialisten. Der Hinweis auf den „Nürnberger Kodex“ setzt also das Impfen gleich mit den NS-Kriegsverbrechen, Menschenversuchen und Massenmorden in den KZs. Ein anderer Mann trug ein Schild mit der Aufschrift: „Sie hätten auch im 3. Reich der ‚Wissenschaft‘ vertraut?“

Das Gesamtbild der selbst gemalten Schilder durch Personen, die den Veranstaltern nahestehen, macht deutlich: Das Impfen bzw. der „Impfzwang“ sollten als ein Verbrechen an der Menschheit dargestellt werden, ähnlich jener in der Nazidiktatur. Das erschloss sich gleichwohl nur den Demonstrierenden, die diese Codes deuten konnten. Zwar wurde jede und jeder, die oder der eines der Schilder trug, zum Teil der Geschichtsklitterung, wollte das im Einzelfall aber möglicherweise gar nicht, weil doch nur eine „Einzelmeinung“ mitgeführt wurde. Eine Frau mit dem Schild „Nie wieder Faschismus!“ war zwar Teil des „Gesamtwerks“, könnte zugleich aber selbst etwas ganz anderes mit ihrem Schild zum Ausdruck bringen wollen – selbst wenn neben ihr ein Block mit AfD-Vertreter*innen oder Rechtsextremen „spazierte“.

Vorfälle und Opfer-Mythen in der Region

Geschichtsrevisionistische Vorfälle gab es auch bei früheren und aktuellen Protesten. Immer wieder werden in Reden und Chats der Szene die Nazigräuel relativiert, antisemitische Inhalte oder Anspielungen verbreitet oder Antifaschist*innen und die Demokratie in die Nähe des „wahren Faschismus“ gerückt. Einer der heutigen Köpfe der „Freien Linken Aachen“ und (Mit-)Organisator entsprechender Demonstrationen hat im März 2021 schon in einer Polemik gegen „die ‚neue SA‘ (= staatliche ‚Antifa‘)“ gewettert. Nachdem deswegen heftige Debatten ausbrachen wurde der Begriff im Pamphlet ausgetauscht und durch „Störabteilung“ ersetzt, später wurde auch die Schreibweise „neue StörAbteilung“ bzw. nur „StörAbteilung“ für den antifaschistischen Gegenprotest genutzt. Ein Verschwörungsfanatiker aus Eschweiler, der in den Jahren zuvor auch durch antisemitische Agitation aufgefallen war, rückte im Dezember 2021 in einem Video zu einer großen Demonstration in Aachen die Lokalzeitungen und den WDR in die Nähe von Nazipropaganda und Judenverfolgung. Den öffentlich-rechtlichen Rundfunk nannte der Mann „Hitler-Fernsehen“.

Im Zuge der Einführung der 2G-Regel im Einzelhandel und in der Gastronomie überklebten in Düren Unbekannte entsprechende Hinweise auf Geschäften mit Zetteln auf denen zu lesen war „Ungeimpfte werden hier gemobbt“. Darunter prangte ein „Judenstern“ mit der Inschrift „Ungeimpft“. Nicht geimpfte Menschen wurden wegen der staatlichen Einschränkungen zur Pandemiebekämpfung also mit der Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Nazideutschland gleichgesetzt. Ähnliches geschah in Wassenberg-Birgelen, wobei in diesem Kontext fast schon die Schändung eines christlichen Wallfahrtsortes im Raum steht.

Schon länger diente das Birgelener Pützchen einer kleinen Gruppe von Gegner*innen der Corona-Schutzmaßnahmen, erweckten Christ*innen, Anhänger*innen von Verschwörungserzählungen und „Reichsbürger*innen“ als Treffpunkt. Seit einiger Zeit stellten Menschen aus diesem Spektrum auch weiße Kerzen oder Grablichter in die Kapelle, als Lichter „der Hoffnung“ oder für „den Frieden“ bezeichnet. Im Zuge der Debatten um die Impfpflicht nahm die Anzahl der Kerzen zu.

Erstmals am letzten Montag im Dezember 2021 stellte dabei die Gruppe rund um einen „Reichsbürger“ aus Wassenberg eine Kerze mit heidnisch-germanischen Runen dazu. Überdies legte man einen „Judenstern“ daneben mit der Inschrift „Nicht geimpft“. Schon länger inszeniert besagter „Reichsbürger“ sich mit der Symbolik eines „Judensterns“ mit der Inschrift „Nicht geimpft“ als Opfer einer angeblichen „Diktatur“ – und würdigt so, siehe oben, den Massenmord an Jüdinnen und Juden zu einer Petitesse herab.

Bei einer Demonstration im Dezember trug der Kopf des „Arbeitskreises GewerkschafterInnen Aachen“ ein Plakat mit Schrift- und Fotocollagen. Unter der Überschrift „Nein zu Diskriminierung!“ und der Unterzeile „Wehret den Anfängen!“ wurde ein Einzelfall, bei dem ein Händler in Gelsenkirchen auf seinem Geschäft „Ungeimpfte unerwünscht!“ geschrieben hatte, mit den NS-Schildern auf jüdischen Geschäften in den 1930er Jahren („Judenboykott“) verglichen: „Juden werden hier nicht bedient!“ Die umstrittene Einzelaktion eines Antiquitätengeschäfts, dessen Betreiber sich kurz darauf entschuldigte, wurde in Aachen also in den Kontext zur massenhaften Entrechtung von Jüdinnen und Juden durch die Nazis gesetzt.

Bei einer Demonstration im Dezember brachten aktive und ehemalige AfD-Funktionäre und -Anhänger*innen – darunter ein Stolberger Unternehmer aus der Werbebranche – mehrere professionell gefertigte Trageschilder mit. Auf einem davon war in Anlehnung an die zynische und weltweit bekannte Inschrift im Konzentrations- und Massenvernichtungslager Auschwitz („Arbeit macht frei!“) zu lesen: „Impfen macht frei – für 9 Monate.“ Die Polizei leitete Ermittlungen ein. Weil die vorgefertigten Plakate aus der AfD(-nahen) Gruppe jedoch beidseitig bedruckt waren, entfernte man von der einen Seite des Schildes Papierfetzen, so dass die umstrittene Losung unkenntlich war und die Frontseite des Trageschildes weiterhin legal von AfD-Leuten und früheren Mitstreiter*innen gezeigte werden konnte.

Der Stolberger Unternehmer – der sich zeitweise nahe der „Querdenken“-Partei „dieBasis“ bewegte – und die AfD Eschweiler waren auch gemeinsam mit „Querdenkern“ involviert in die Durchführung von „Spaziergängen“ in der Indestadt. Für den 9. Januar rief die AfD dabei mit einer Grafik zur Teilnahme auf, die den Rattenfänger von Hameln zeigte, der Kinder entführte und bunte Luftballons mit der Aufschrift Pharma, Kapital, Presse, Lobbyismus und Impfpflicht trug. In einer Umkehrung des eigenen politischen Wirkens und politischer bzw. strafrechtlicher Begrifflichkeit schrieb die AfD dazu: „Gesicht zeigen! Für die Selbstbestimmung! Für ein solidarisches Miteinander! […] Gegen die Volksverhetzung! Keinen Millimeter gegen die Freiheit!“

Einflüsse auf die „Spaziergänge“

Bisher ist die Szene der Impfgegner*innen in der Region weiterhin heterogen. Zu beobachten ist, dass Verschwörungsgläubige, „Querdenker*innen“ und sich selbst als bürgerliche Mitte inszenierende Esoteriker*innen und Anthroposoph*innen weiterhin einen Einfluss ausüben auf die Entwicklung der Szene und auf Demonstrationen bzw. „Spaziergänge“. Ist im Kreis Heinsberg in manchen Kommunen der Einfluss von Rechtsextremen und „Reichsbürger*innen“ wahrnehmbar, sind in anderen Kommunen überwiegend Menschen der „dieBasis“ und Verschwörungsgläubige aktiv. In Roetgen ist der Einfluss von „Reichsbürger*innen“ feststellbar, in Eschweiler und Düren sind Vertreter der AfD maßgeblich (s.o.) oder nur teilweise in die „Spaziergänge“ involviert. In Aachen kooperieren „Querdenker“ und Aktivist*innen, die sich selbst als „Linke“, „Gewerkschafter*innen“ oder „Friedensbewegte“ einstufen.

Auch wenn im Zuge der „Impf-Debatte“ zahlreiche neue Teilnehmer*innen zu den Protesten gestoßen sind und diese teilweise aus dem „bürgerlichen Spektrum“ und der „Mitte“ der Gesellschaft stammen, so werden die Proteste oft doch weiterhin von Aktivist*innen veranstaltet und zum Teil erheblich beeinflusst, die in vielen Fällen schon seit Beginn der Pandemie gegen die Corona-Schutzmaßnahmen und das Impfen protestiert haben. In Einzelfällen werden diese zudem schon von Verfassungsschutzämtern beobachtet. (mik)