Reportage: Karlspreis, jüdisches Leben, ein angeblich „pro-israelisches“ Programm und „Frieden mit Russland“…
Aachen. Der Präsident der Europäischen Rabbiner-Konferenz, Pinchas Goldschmidt, ist am Donnerstag (Christi Himmelfahrt) in Aachen mit dem Internationalen Karlspreis ausgezeichnet worden. Damit sei das Signal verbunden, „dass jüdisches Leben selbstverständlich zu Europa gehört und in Europa kein Platz für Antisemitismus sein darf“, erklärte das Karlspreis-Direktorium. Der Oberrabbiner wurde für seinen Einsatz für europäische Werte, Verständigung und den interreligiösen Dialog geehrt. Vor diesem Hintergrund gab es am Rande der Preisverleihung zwei durchaus fragwürdige Demonstrationen: eine pro-russische und eine pro-palästinensische.
Das Pressegespräch am Montag
Die Verleihung des Karlspreises an Oberrabbiner Goldschmidt und die jüdischen Gemeinschaften in Europa sei ein Zeichen gegen Antisemitismus. Darauf weisen Jürgen Linden, Vorsitzender des Karlspreis-Direktoriums, und Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen am Montag (6.5.) mehrfach bei einem Pressegespräch hin. Es gehe auch darum, jüdisches Leben, jüdischen Glauben und jüdische Kultur sichtbar zu machen. Linden betont, dass das Karlspreis-Komitee zur aktuellen Lage im Nahen Osten keine Stellung nehme. Er ergänzt jedoch, man unterstütze die Meinung Goldschmidts, der langfristigen Waffenstillstand, dauerhaften Frieden und das Selbstbestimmungsrecht der Völker fordere.
Zudem, sagt Linden sei „Antisemitismus Gift für die Demokratie, der Kampf gegen Antisemitismus [ist] ein Kampf für die Demokratie“. Oberbürgermeisterin Keupen erinnert daran, dass man mit der Preisverleihung und dem Rahmenprogramm „jüdisches Leben“ in Europa und in Aachen bekannt(er) machen wolle. „Ein Angriff auf jüdisches Leben ist ein Angriff auf die Vielfalt“, so Keupen. Antisemitismus sei letztlich auch ein Angriff auf „uns alle“.
Die Aufrufe zum Gegenprotest
Zwei Versammlungen sind im Kontext der Karlspreis-Verleihung angemeldet. Dabei handelt es sich zum einen um die offenbar bei politischen Großereignissen unterdessen unvermeidlichen Querfront-Proteste. Der Aufruf richtet sich dabei weder gegen den Oberrabbiner noch konkret gegen den Karlspreis. Angeblich nehmen die Organisator*innen nur den 9. Mai zum Anlass und fordern eine „Gute Nachbarschaft mit Russland“. Durch die Verschiebung der Datumsgrenze gilt in Deutschland der 8. Mai als Tag der Befreiung und der Kapitulation Nazideutschlands, in der ehemaligen Sowjetunion beziehungsweise dem heutigen Russland ist der Tag des Sieges der 9. Mai – also 2024 der Himmelfahrtstag.
Offener gegen den Karlspreis und Goldschmidt agiert das pro-palästinensische Spektrum in seinen Aufrufen zu einer gemeinsamen Demonstration. Unterstützt werden diese Aufrufe unter anderem von palästinensischen Initiativen, linken und marxistischen Gruppen. Sie fordern: „Auch die Stimme Palästinas muss gehört werden!“ Kritisiert wird dabei auch eine pro-israelische Äußerung Goldschmidts nach dem Terror der Hamas. Außerdem habe er Kritik an Israel als antisemitisch bezeichnet.
Dem in den Protestaufrufen als „pro-israelisch“ bezeichneten Rahmenprogramm zur Karlspreis-Verleihung wird vorgeworfen, zu sehr die Sichtweise Israels zu transportieren. Das „Antikriegsbündnis Aachen“ schreibt in einem Flugblatt: „Dass die Preisverleihung an Goldschmidt mit über 40 pro-israelischen Veranstaltungen im Vorfeld von Anfang an nur das Ziel hatte, eine medienwirksame Werbekampagne und Rechtfertigung für das Vorgehen Israels zu inszenieren, ist offensichtlich.“ Die „Palästina Solidarität Aachen“ verbreitet, das „Ziel der Preisverleihung an Goldschmidt mit über 40 pro-israelischen Veranstaltungen […] ist offensichtlich nur, die Rechtfertigung für das Vorgehen Israels in Palästina zu inszenieren.“
Die Wahrheit ist: Das Gros der Programmpunkte widmet sich gar nicht dem Thema Israel oder dem Krieg im Nahen Osten. Das umfangreiche Rahmenprogramm ist nach Angaben des Karlspreises zudem gut angenommen worden. Themen waren dabei jüdisches Leben und jüdische Kultur, aber auch das alltägliche Leben in Israel. Darüber hinaus gab es Veranstaltungen zum Thema Antisemitismus, Holocaust und den Hass gegen Jüdinnen und Juden. Nur wenige Programmpunkte beschäftigten sich indirekt oder vorwiegend mit der aktuellen Situation nach dem Terror der Hamas am 7. Oktober 2023. Daraus zu schließen, der Karlspreis habe „pro-israelische“ Veranstaltungen durchgeführt, ist falsch.
Preisverleihung am Vatertag
Vizekanzler Robert Habeck sagt in seiner Festrede im historischen Krönungssaal des Rathauses, mit der Preisvergabe setze der Karlspreis ein Zeichen gegen Antisemitismus, der in diesen Jahren ausgeprägter als seit langem sei. Der Bundeswirtschaftsminister würdigte auch den von Goldschmidt geförderten interreligiösen Dialog zwischen Musliminnen und Muslimen sowie Jüdinnen und Juden – denn Goldschmidt ist Mitgründer des europäischen Muslim-Jewish Leadership Council.
Goldschmidt weist in seiner Rede auf die Zunahme antisemitischer Straftaten hin. Er sagt, es werde viel geleistet, um Antisemitismus zu bekämpfen und den jüdischen Menschen Sicherheit zu geben. Doch das reiche nicht. „Die Karlspreisträger des Jahres 2024, sie leben in Angst. Sie bangen um ihre Zukunft in Europa – für sich, ihre Kinder und Enkel.“ Und er fordert: „Wir alle müssen dagegen aufstehen! Die jüdische Gemeinschaft kann es nicht. Und es ist auch nicht ihre Aufgabe. Es ist die Aufgabe ihrer Heimatländer und Heimatgesellschaften, sich gegen die Feinde der europäischen Werte zu erwehren! Wann soll ‚nie wieder‘ sein, wenn nicht jetzt?“, so der 60-Jährige. „Nur gemeinsam können wir die Werte der Einigkeit, der Freiheit, der Demokratie und der Menschlichkeit ehren – indem wir sie vertreten und verteidigen.“
Der Oberrabbiner sagt aber auch, er wünsche sich mehr Solidarität mit dem jüdischen Staat. Aber auch er habe Probleme mit der heutigen israelischen Regierung, „mit den rechtsradikalen Regierungsmitgliedern. Nein, auch mich lassen die Bilder aus dem Gazastreifen nicht kalt, wie könnten sie?“ Angesichts neuer Formen des Antisemitismus sagt er aber auch, dieser komme „in seiner uralten rassistischen rechtsradikalen Gestalt daher. Aber er kleidet sich auch immer wieder neu. Er labelt sich als ‚Antizionismus‘, als ‚Israelkritik‘, als ‚Boycott, Divestment, Sanctions‘.“
Rund um Dom und Rathaus sind an dem Tag hunderte Menschen unterwegs. Alleine auf dem Katschhof sind laut Lokalzeitung rund 1.100 Menschen zusammengekommen, als Goldschmidt nach dem offiziellen Festakt die Bühne des Bürgerfestes gemeinsam mit Politiker*innen und früheren Preisträger*innen besucht. Die Aachener Zeitung wird später kommentieren: „Goldschmidt, unerschütterlich in seinem Kampf gegen alle Formen von Radikalismus, steht für Frieden, Freiheit und Dialog. […] Selbst [er] hielt sich in seiner Rede mit Kritik, insbesondere gegenüber den rechtsradikalen Regierungsmitgliedern [in Israel], nicht zurück. Das machte ihn, den Streiter für Menschlichkeit, erst recht zu einem würdigen Preisträger.“
Querfront will „Gute Nachbarschaft mit Russland“
Im Hof, nur wenige Meter vom Rathaus entfernt, haben sich rund 70 Personen aus dem Querfront-Spektrum versammelt. Darunter sind „Querdenker*innen“, Verschwörungsgläubige, einige Friedensbewegte, Anhänger*innen der „Freien Linken“ und viele Mitglieder oder Sympathisant*innen von „dieBasis". Personen aus dem rechten Spektrum, die in früheren Jahren ebenfalls an solchen Demonstrationen teilnahmen, fehlen fast vollständig.
Bei solchen Versammlungen waren in Aachen nicht selten Anhänger*innen Putins anwesend. In manchen Reden wurden unter anderem Aussagen gegen die Ukraine verbreitet, die aus der russischen Propaganda bekannt sind. Die Organisatoren der jetzigen Kundgebung haben 2023 die Proteste gegen den „Kriegstreiber“ Selenskyj organisiert, als das ukrainische Volk und dessen Präsident Wolodymyr Selenskyj mit dem Karlspreis geehrt wurden. Auch Rechtsextreme, Antisemit*innen und „Reichsbürger*innen“ nahmen 2023 an den Demonstrationen gegen den Karlspreis teil.
Eine der Redner*innen an diesem Donnerstag ist die umstrittene Politikwissenschaftlerin und Publizistin Ulrike Guérot. Sie war seit 2021 Professorin für Europapolitik an der Universität Bonn. Ende Februar 2023 wurde ihr Arbeitsverhältnis wegen mutmaßlicher Verstöße gegen wissenschaftliche Standards gekündigt. Guérot mag umstritten sein, aber ihre Rede nun unterscheidet sich zumindest in Teilen von den meisten bisherigen Reden bei den Querfront-Protesten. Guérot lobt den Karlspreisträger und sagt, jüdisches Leben gehöre zu Deutschland. Zweimal, sagt Guérot, sei sie selbst Gast bei früheren Preisverleihungen gewesen. Jetzt aber spreche sie hier. Denn hier – in eher zweifelhaften Kreisen wohlgemerkt – könne sie noch Kritik üben, die sie im historischen Krönungssaal wohl nicht äußern könne. Nur von dort aber, bedauert sie, würden viele Medien berichten.
Dass „dieBasis“ so stark vertreten ist, liegt auch an Michael Aggelidis, dem stellvertretenden NRW-Landesvorsitzenden der aus der „Querdenken“-Bewegung hervorgegangenen Splitterpartei. Für Aggelidis handelt es sich im Hof nicht um eine „pro-russische“ Kundgebung, wie in den Medien verbreitet wurde, sondern um eine „pro-deutsche“. Hinter ihm steht ein Mann, der lange im globalisierungskritischen Netzwerkes Attac aktiv war, mit einem Schild: „Gute Nachbarschaft mit Russland!“ Andere Transparente und Fahnen fordern den Austritt Deutschlands aus der NATO – oder betonen die gute Freundschaft zu Russland.
Der Oberrabbiner bekommt von der Versammlung nichts mit. Der 60 Jahre alte jüdische Geistliche ist seit 2011 Präsident der Konferenz der europäischen Rabbiner, in der mehr als 700 Rabbiner vertreten sind. Der in Zürich geborene Goldschmidt lebte mehr als 30 Jahre in Moskau. Nachdem er sich geweigert hatte, den russischen Angriff auf die Ukraine zu unterstützen, verließ er 2022 mit seiner Familie das Land. Er wurde in Russland offiziell zu einem Agenten gegen die russische Föderation erklärt. Im Interview mit der Aachener Zeitung sagte Goldschmidt:
„Mehr als 100.000 Juden haben Russland seit Beginn des Krieges verlassen. Auch aus der Ukraine gibt es Zehntausende jüdische Flüchtlinge, die jetzt in Deutschland oder Österreich leben. Es gibt eine ganze Gemeinde aus Odessa, die nach Bukarest umgezogen ist. Das ist sehr traurig, weil damit in Russland, aber auch in anderen Teilen von Osteuropa der Neuanfang des jüdischen Lebens, den es dort seit 1990 gab, zugrunde geht. Dutzende von Rabbinern, die über Jahrzehnte hinweg Gemeinden, Schulen, Synagogen aufgebaut haben, mussten Russland verlassen. Diejenigen, die geblieben sind, sind zunehmend antisemitischen Anfeindungen ausgesetzt.“
„Auch die Stimme Palästinas muss gehört werden!“
Einer der bundesweit wohl bekanntesten pro-palästinensischen Aktivist*innen an diesem Tag in Aachen ist Wieland Hoban, der unter anderem am aufgelösten und umstrittenen Palästina-Kongress in Berlin beteiligt war und der Kleingruppe „Jüdische Stimme“ angehört. Auch er sagt im Interview mit Medienvertreter*innen vor dem Stadttheater, es habe rund um den Karlspreis ein „pro-israelisches“ Rahmenprogramm gegeben respektive die Verleihung sei in einem „unkritisch pro-israelischen Rahmen“ eingebettet gewesen. An der Demonstration nehmen rund 200 Menschen teil, viele davon mit palästinensischem, arabischem oder muslimischem Hintergrund, außerdem Friedensbewegte, Vertreter*innen marxistischer und kommunistischer Splittergruppen sowie später auch einige Personen aus dem Querfront-Lager (s.o.).
Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, steht auf dem Fronttransparent: „Stoppt Kindermord Gaza.“ Dahinter ein Meer von Palästina-Fahnen. Frauen tragen torsoähnliche Gebilde, die in blutverschmierte „Leichentücher“ gehüllt sind. Sie symbolisieren Tote. Auf einem Schild werden israelische Politiker als Kriegsverbrecher dargestellt – in der Mitte Benjamin Netanjahu, der israelische Ministerpräsident. Die Bilder der insgesamt drei Politiker sind in hellen Kreisen auf rotem Grund zu sehen, ihre Konterfeis sind in Grau und Schwarz gehalten.
Ob diese bildliche Nähe zu Hakenkreuzfahnen beabsichtigt ist? Auf anderen Teilen des Plakats werden Bundeskanzler Olaf Scholz, Außenministerin Annalena Baerbock und US-Präsident Joe Biden als „Waffenlieferanten“ dargestellt. Die Collagen mit ihren Fotos sind in diesem Teil des Plakats farbig gehalten, ebenso die Bilder von weinenden Kindern, den „Opfern“ der anderen Abgebildeten. In Sprechchören wird „Free Palestine!“ gefordert. Auch „Free Palestine from German guilt!“ („Befreit Palästina von deutscher Schuld!“) wird gerufen, eine Anspielung auf die deutsche Schuld am Holocaust.
Ebenso skandiert wird ab und an die Parole „Nie wieder! Ist Jetzt!“ Nach den Massakern der Hamas an der Zivilbevölkerung war diese Aussage israelsolidarisch gemeint – auf pro-palästinensischen Demonstrationen wird sie seit Monaten im umgekehrten Sinne verwendet, nämlich um ein Ende des israelischen „Genozids“ an der Bevölkerung in Gaza zu fordern. Redner*innen betonen immer wieder, dass hier keine Antisemiten demonstrierten. Bei der Abschlusskundgebung am Elisenbrunnen erklärt eine Rednerin: „Freiheitskampf ist kein Terrorismus!“ Ob sie damit den terroristischen Arm der Hamas verklären will, bleibt der Interpretation der Zuhörer*innen überlassen. Ein Redner wettert gegen die „zionistische Regierung“ in Israel. Später wird die „Palästina Solidarität Aachen“ bei Instagram posten: „Die deutsche Politik hat mit dem Karlspreis […] ein weiteres Instrument ihrer Staatsräson angewandt, um von den Verbrechen in Gaza abzulenken.“
Das Posting und der „Zionist“
Irgendwo in der pro-palästinensischen Demonstration befindet sich der Betreiber eines Instagram-Kanals. Dieser nennt sich „Antifa Aachen“ beziehungsweise „Antifaschistische Klimaaktion Aachen“ – betrieben wird er von einer Einzelperson. Anlässlich des Besuchs von Goldschmidt an der RWTH am 8. Mai postete der Account: „Was eine Schande[,] die rwth unterstützt zionisten[.] wir sollten das nicht zulassen! wenn ihr in der Nähe seit[,] geht rein und ruft ‚free palestine‘“ [Rechtschreibung wie Original]. Zionisten ist ein Code- oder Containerwort, es meint in bestimmten Kreisen aus strafrechtlichen Gründen nicht selten Juden – losgelöst vom historischen Verständnis des wahren Zionismus.
Menschen, die den Begriff benutzen, bestreiten das jedoch immer wieder. Sie seien keine Antisemit*innen, sie würden nur den wahren Zionismus kritisieren. Goldstein selbst ist allerdings nicht als Zionist aufgetreten – der „Antizionismus“ ist für ihn jedoch eine neue Spielart des Antisemitismus (s.o.). Und erst Wochen zuvor hatte derselbe Account in Instagram-Stories gegen die „Omas gegen Rechts“ Aachen und deren Kampf gegen Antisemitismus gelästert. Sie sollten sich umbenennen in „Omas für Völkermord“, „Omas für Genozid“ und „White Omas“, hieß es in einem Posting. (mik)