Germanen-Mythologie: Braune Folklore und ideologisches Rüstzeug

Region Aachen. Rechtsextremist*innen in der Region hatten und haben einen Faible für Germanen oder nordisch-germanische Mythologie. Kleidung mit entsprechender Symbolik wurde bei Aufmärschen wie in Stolberg getragen. Die „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL) und das „Syndikat 52“ (S52) hielten Sommer- und Wintersonnenwendfeiern ab, angeblich nach dem Ritus der Ahnen, gleichwohl übergehend in Trinkgelage. Nicknames im Web beziehen sich auch auf die Mythen. Ein Rechtsextremist aus Alsdorf, aktiv bei der „Bruderschaft Deutschland“, nannte sich bei Facebook „Allvater Odin“.

Braune Folklore oder ideologisches Rüstzeug? Dieser Frage geht Georg Schuppener, der in der Region lebt und bisher an verschiedenen renommierten und auch internationalen Universitäten gelehrt und geforscht hat, in seinem neuen Buch nach. Der Verlag bewirbt „Die Schatten der Ahnen. Germanenrezeption im deutschsprachigen Rechtsextremismus“ damit, dass in dem Buch erstmals umfassend die rechtsextremen Bezugnahmen auf die germanische Geschichte und Kultur dargestellt und interpretiert wird. Der Sprachwissenschaftler und Naturwissenschaftshistoriker kommt dabei zu dem Schluss: Wenn sich Rechtsextremist*innen auf die Germanen als ihre Ahnen und auf die nordisch-germanische Mythologie berufen, ist das kein völkischer Kitsch, sondern ein zusätzlicher ideologischer Kitt.

  • Ein […] Aspekt der Anknüpfung an germanische Traditionen besteht im Aufgreifen und Wiederbeleben von tatsächlichem oder vermeintlichem überliefertem germanischem Brauchtum. Hiermit gelingt es Rechtsextremisten gut, nicht nur politische Botschaften zu emotionalisieren und im Sinne eines Events erlebbar zu machen, sondern damit zugleich den inneren Zusammenhalt der Gruppen zu stärken und teilweise sogar breite Gesellschaftsschichten zu infiltrieren. […] (S.32) In manchen kleinen Ortschaften Ostdeutschlands gehören […] Feiern zur Sommer- bzw. Wintersonnenwende inzwischen fast als fester Bestandteil zum dörflichen Kulturleben. […] (S.33) Über in der Allgemeinheit wenig bekannte Symbole kann sowohl eine Abgrenzung zur Mehrheitsgesellschaft erfolgen als auch eine zumindest oberflächliche Verdeckung der meist strafrechtlich relevanten Inhalte und Ziele. (S.156)

Das Buch ist Erklärstück, Analyse und Warnung zugleich. Schuppener widmet sich auch dem in rechtsextremen Kreisen beliebten Germanen- oder Wikinger-Kitsch. Er erklärt zugleich anhand von Szene-Accessoires mit Bezügen zur nordischen, neuheidnischen Mythologie oder Modemarken wie „Thor Steinar“ wie die Szene ebenso äußerst intelligent mit Andeutungen, Mythen und Codes arbeitet. Und er erläutert den ideologischen Hintergrund und historische Bezüge zu den antisemitischen Esoterikern und zum Nationalsozialismus. Daran anknüpfend dient vieles davon der Braunszene bis heute auch dazu, sich elitär zu geben. Eine an die Hitler-Jugend und dem Bund Deutscher Mädel anknüpfende Kaderschmiede der Neonazi-Szene war einst die „Wiking Jugend“, lange Jahre mit Sitz in Stolberg.

  • Bei den Wikinger-Bezügen in der rechtsextremen Szene werden jedoch keineswegs die historischen Wikinger umfassend rezipiert. Vielmehr wird nur ein sehr selektiv adaptiertes Bild genutzt, das klischeehafte Züge trägt. So werden Wikinger als Kämpfer, Eroberer, wilde, ungezähmte Männer (und Frauen) dargestellt, häufig mit martialischen Waffen, Helmen und Schiffen. Dies ist lediglich ein Ausschnitt der historischen Wikingerkultur, der allerdings in die politische Ideologie und die Traditionsbildung heutiger Rechtsextremisten passt. Die Referenz auf die Wikinger ist so immer zugleich ein Bekenntnis zu Gewaltbereitschaft. […] Zur Germanen-, speziell zur Wikingerrezeption […] gehört auch die Pflege von Elementen mehr oder weniger klischeehafter typisch germanischer Bräuche wie Mettrinken, Axtwerfen oder andere Betätigungen, die oft auch in den Kontext des Kampfsportes gehören. (S.31)

Die Welt des Kampfes und Gewalt als Mittel zur Durchsetzung der eigenen Ideologie sind elementare Bestandteile im Faschismus und waren es auch im Nationalsozialismus. Ideologie und Mythologie werden so laut Schuppener zum Kitt im Krieg gegen die Moderne und gegen die Globalisierung, gegen Demokratie, Pluralismus und Multikulturalität. Nicht zuletzt ist es der Kitt im Kampf gegen das als schwächlich angesehene Christentum sowie gegen „die Juden“. Die in rechtsextremen Kreisen verbreitete Losung „Odin statt Jesus“ klingt flappsig – deutlicher formulierte die Band „Landser“, die Jesus ein „Judenschwein“ nannte.

Mitglieder der bis dahin konspirativ wirkenden Berliner Band wurden 2003 verurteilt, die Musikgruppe als kriminelle Vereinigung eingestuft. Sinn sei es nicht gewesen, Musik im eigentlichen Sinne zu spielen, sondern strafrechtlich relevante Hetze und nationalsozialistische Inhalte über die Lieder zu verbreiten, urteilte das Gericht. Heute tritt der Sänger nach verbüßter Haftstrafe als „Lunikoff“ bzw. „Die Lunikoff Verschwörung“ auf. Nach dem Verbot der KAL 2012 organisierten ehemalige Mitglieder 2013 einen „Balladenabend“ mit „Lunikoff“ in Kerpen-Manheim. In Szenekreisen kursierten zuletzt Hinweise darauf, das „Luni“ 2020 erneut in der Region aufgetreten sei, diesmal auf einer Privatfeier bei Rechtsextremen mit einem Hang zur nordisch-germanischen Mythologie.

  • Selbst wenn bezweifelt werden darf, dass jede rechtsextreme Berufung auf die germanischen Götter auch ein Glaubensbekenntnis darstellt, so ist sie doch in jedem Fall zumindest eine Antihaltung, nämlich eine Ablehnung des Christentums, seiner Werte und Ideale sowie seiner jüdischen Wurzeln. Besonders deutlich wird die u.a. antisemitisch motivierte Ablehnung im Lied Walvater Wotan der Gruppe Landser, wo es u.a. im Text lautet: „Wir wollen Euren Jesus nicht, das alte Judenschwein. Denn zu Kreuze kriechen kann nichts für Arier sein. (…). Odins Raben wachen und sehen eure Taten. Ein Blitz aus Donars Hammer schlägt in die Kirche ein. Nun fleh zu deinem Judengott, er hört dich nicht, du Christenschwein.“ Ähnlich martialische Texte mit antichristlichem Inhalt sind auch von anderen rechtsextremen Bands belegt. (S.109)

Georg Schuppener schildert nicht nur ausführlich wie vielfältig sich (klassische) Rechtsextremist*innen heute auf die Germanen als ihre Ahnen beziehen und sich auf die nordisch-germanische Mythologie berufen. Er weist auch darauf hin, dass es die wohl einzige politische Bewegung aktuell ist, die so weit in die Vergangenheit zurückschaut auf ihre – angeblichen! – Wurzeln und einem quasi völkisch aufgeladenen Genpool. Das hat sicher mit dem Nationalsozialismus zu tun. Schon die Nationalsozialist*innen haben jedoch, schildert Schuppener, weniger mit Fakten als vielmehr mit nordisch-germanischen Mythen und Sagen gearbeitet. Alles wurde passend zur NS-Ideologie vermischt.

Obschon historisch wenig dazu überliefert ist, ob und wie Germanen Sonnenwendfeiern begangen haben, zelebriert die rechtsextreme Szene solche Feiern heute wie im Dritten Reich. Auch die Externsteine im Teutoburger Wald wurden von den Nationalsozialist*innen geschichtsverfälschend als germanische Kultstätte inszeniert. Diese Praxis setzt sich, schreibt Schuppener, heute in der Szene fort. Wobei er damit den eher klassischen Rechtsextremismus meint. Auf Phänomene wie die sich intellektuell gebende „Neue Rechte“, den früheren „Flügel“ bei der AfD oder dem hippster-mäßigen, völkischen Extremismus wie bei der „Identitären Bewegung“ geht der Autor noch nicht konkret ein. (mik)

  • Georg Schuppener: Die Schatten der Ahnen. Germanenrezeption im deutschsprachigen Rechtsextremismus. Edition Hamouda, Leipzig. Mai 2021. 214 Seiten, 18 Euro. ISBN 978-3-95817-058-2