Wahl(kampf)nachlese: Bei der Europawahl haben AfD und BSW gepunktet
Region Aachen. Dem Bundestrend folgend hat die Alternative für Deutschland (AfD) auch in der Region Aachen, Düren und Heinsberg in fast allen Wahlkreisen erstmalig zweistellige Wahlergebnisse erzielt – trotz der Massenproteste gegen die rechtsradikale Partei und einer Vielzahl von Negativschlagzeilen im Vorfeld der Europawahl. In manchen Wahlkreisen ist die AfD nun trotz verhaltenem Wahlkampf zweitstärkste Kraft vor SPD und Bündnis-Grünen. Im Kreis Düren und in den Kommunen Aldenhoven, Nörvenich, Niederzier sowie Hückelhoven und Alsdorf wurde die AfD auffallend oft gewählt. Das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das sich derzeit noch im Aufbau befindet, erreichte regional zwischen vier und fünf Prozent der Stimmen. Andere Parteien des politischen Spektrums rechts der Mitte oder des Querfront-Lagers bleiben marginalisiert.
Vor Beginn des Wahlkampfes machte die AfD wegen des „Potsdamer Treffens“ und Abschiebeplänen für Migrant*innen Schlagzeilen. Hunderttausende demonstrierten bundesweit gegen Rechtsextremismus und gegen die AfD – auch in Aachen waren Tausende auf den Straßen. Zwei Spitzenkandidat*innen der Partei gerieten in die Schlagzeilen, schon zuvor gab es Berichte über Unregelmäßigkeiten in den Lebensläufen einiger AfD-Kandidat*innen, andere gehören dem extrem rechten Flügel an. In den Umfragen lag die Partei Anfang Januar noch bei 22 bis 24 Prozent – am Sonntag konnte sie rund 16 Prozent der abgegebenen Stimmen verbuchen. Offenbar wurde die vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestufte AfD gerade wegen ihres radikalen Auftretens und Personals gewählt. Wähler*innen sehen darin offenbar kein Problem mehr, vielmehr scheint der Rechtsextremismus „Teil der Popkultur zu werden.“
Im Vergleich zu den vorangegangenen Wahlen, insbesondere in den westlichen Bundesländern, konnte die AfD zum Teil deutliche Stimmenzuwächse verzeichnen. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis der Europawahl des Bundeswahlleiters erhielt die AfD bundesweit 15,9 Prozent der Stimmen (15 Sitze im neuen Europäischen Parlament), in Nordrhein-Westfalen erreichte die Partei 12,6 Prozent. Das BSW kam bundesweit auf 6,2 Prozent (6 Mandate), in NRW auf 4,4 Prozent. Die AfD-Abspaltung Bündnis Deutschland erreichte im Bund und in NRW jeweils 0,4 Prozent. Die „Querdenken“-Partei dieBasis erreichte im Bund 0,3 Prozent (NRW: 0,2 %), die NPD-Nachfolge Die Heimat im Bund und in NRW jeweils 0,1 Prozent.
Regionale Ergebnisse sehr unterschiedlich
In der Stadt Aachen schnitt die AfD bei früheren Wahlen im Vergleich zum Rest der Region immer schwach ab – das war auch bei der Europawahl am Sonntag so, allerdings verzeichnete sie einen Stimmenzuwachs. Insgesamt kam die rechtsradikale Partei auf 6,87 Prozent, das BSW auf 4,06 Prozent. Obwohl das BSW mit dem von der Linken gewechselten Bundestagsabgeordneten Andrej Hunko einen starken Vertreter vor Ort hat, schnitt das neue Wahlbündnis in Aachen nicht besser ab als im NRW-Durchschnitt. Besonders starke Ergebnisse erzielte die AfD in den Stadtteilen Brand (8,85 %), Haaren (10,90 %) und Eilendorf (11,40 %).
Im Altkreis Aachen – Städteregion ohne die Stadt Aachen – erreichte die AfD 13,97 Prozent, das BSW kam auf 4,68 Prozent. In ihrem bekannten Hotspot Alsdorf schnitt die AfD – obwohl dort die Strukturen nicht übermäßig gefestigt sind und ihr Aktionismus gering ausfällt – mit 18,56 Prozent besonders gut ab. Auch für das BSW war Alsdorf mit 5,26 Prozent die erfolgreichste Kommune in der Städteregion, das BSW lag hier sogar noch vor der FDP. Die AfD war – wie schon bei früheren Wahlen – auch in Eschweiler (16,87 %) und Stolberg (14,50 %) besonders stark. Beides korrespondiert damit, dass die Partei hier über Strukturen verfügt und zuletzt durch aggressiven Aktionismus auffiel (siehe unten). In der Nordeifel bzw. im Südkreis erzielte die AfD lange Zeit eher schwache Wahlergebnisse, legte nun aber auch dort leicht zu. Das Bündnis Deutschland schnitt in Herzogenrath mit 0,51 Prozent etwas besser ab als im Landes- und Bundesdurchschnitt.
Im Kreis Düren erreichte die AfD 15,56 Prozent und liegt damit drei Punkte über dem NRW-Durchschnitt. Düren ist für die AfD der erfolgreichste Kreis im Großraum Aachen. Hätte die rechtsradikale Partei rund 0,5 Prozent bzw. etwa 600 Stimmen mehr erhalten, wäre sie noch vor der SPD zweitstärkste Partei im Kreis geworden – in den Kommunen Aldenhoven, Heimbach, Merzenich, Nideggen, Niederzier, Nörvenich und Titz lag die AfD bereits am Sonntag vor der SPD. Besonders erfolgreich war die AfD in Niederzier (19,09 %), Aldenhoven (18,91 %) und Nörvenich (18,03 %). Das BSW erreichte im Kreis Düren 4,7 Prozent, zwei BSW-Hotspots sind Merzenich (5,22 %) und Düren-Stadt (5,26 %) – in Aldenhoven und Düren erhielt das BSW mehr Stimmen als die FDP. In Merzenich, Nörvenich (beide 0,71 %), Nierderzier (0,66 %), Aldenhoven (0,63 %), Inden (0,62 %) und Hürtgenwald (0,57 %) schnitt das Bündnis Deutschland etwas besser ab als im Landes- und Bundesdurchschnitt.
Im Kreis Heinsberg erreichte die AfD 14,53 Prozent (und liegt damit vor der SPD), das BSW kam auf 4,17 Prozent. In Hückelhoven (18,82 %) und Übach-Palenberg (17,92 %) erzielte die AfD ihre besten Ergebnisse im Kreis, in Hückelhoven, Geilenkirchen, Waldfeucht, Wassenberg und Heinsberg ist die rechtsradikale Partei noch vor der SPD zweitstärkste Kraft geworden. War Hückelhoven schon in der Vergangenheit ein Hotspot für Parteien rechts der Mitte, so blieb die Kleinstadt es auch bei der Europawahl: Die NPD/Die Heimat holte nun 0,18 Prozent (28 Stimmen) – damit lag die Neonazi-Partei hier nicht nur über dem Landesdurchschnitt, sie erzielte in der Kommune auch ihr bestes Wahlergebnis im Großraum Aachen. Das BSW war in Übach-Palenberg am stärksten (5,22 %) und schnitt dort und in Hückelhoven besser ab als die FDP.
Mäßiger Auftakt vor den Wahlen
Der Wahlkampf zu den Europawahlen war in den letzten Jahren bei allen Parteien immer kleiner als der zu den Bundestags- und Landtagswahlen. Öffentliche Wahlkampfveranstaltungen der Parteien mit Politiker*innen aus dem rechten oder rechtsoffenen Spektrum fanden im Raum Aachen 2024 keine statt. Nahezu unsichtbar blieben aus regionaler Sicht rechtsextreme Splitterparteien wie die in Die Heimat umbenannte NPD. Auch das Bündnis Deutschland, eine Splitterpartei von AfD-Abtrünnigen, blieb relativ unsichtbar.
Infostände rechter oder rechtsoffener Parteien waren im Straßenbild deutlich seltener zu sehen als in früheren Wahlkämpfen. So hielt die AfD vor allem im Raum Heinsberg und Düren sowie in Aachen vereinzelt solche Stände ab. Einen virtuellen Wahlkampf führte die Partei allerdings auf ihren Profilen und Kanälen in den sozialen Medien und Netzwerken. Offenbar erhoffte sie sich dort größere Erfolge beim Ansprechen von Stammwähler*innen und Sympathisant*innen als im eher traditionellen Straßenwahlkampf.
Die inzwischen personell dezimierte „Querdenken“-Partei dieBasis hielt monatliche Infostände in Aachen ab – ansonsten blieb sie im Wahlkampf lange Zeit unsichtbar, abgesehen von Plakaten, die kurz vor dem Wahltermin aufgehängt wurden. Außerdem wurden für eigene Plakate Werbeflächen bei einem kommerziellen Anbieter angemietet. Das neu gegründete BSW um den von der Linken dorthin gewechselten Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko führte kurz vor der Wahl einige Infostände in Aachen und Düren durch. Anfang Mai fand zudem ein nicht öffentliches „Unterstützertreffen“ statt, an dem unter anderem Hunko, Generalsekretär Christian Leye und der ehemalige Düsseldorfer Oberbürgermeister Thomas Geisel teilnahmen. Laut BSW nahmen rund 130 Personen aus den Kreisen Aachen, Düren, Euskirchen, Heinsberg und dem Rhein-Erft-Kreis teil.
Der Plakatwahlkampf dieses Spektrums war überwiegend mäßig. Das BSW plakatierte aber großflächig in Aachen. Die AfD fiel durch vereinzelte Plakate an stark befahrenen Kreuzungen, Aus- und Einfallstraßen auf. Der Kreisverband Heinsberg hat nach Angaben eines AfD-Funktionärs im gesamten Kreisgebiet nur 400 Plakate zur Europawahl aufgehängt. Bei zehn Städten und Gemeinden auf einer Fläche von rund 630 Quadratkilometern wäre das erstaunlich wenig. Allerdings decken sich diese Angaben auch mit der eher mäßigen Plakatierung der anderen AfD-Kreisverbände im westlichen Rheinland. Kurz vor der Wahl warb die AfD zudem noch mit Großplakaten auf kommerziellen Werbeflächen.
Plakatschlachten und keine Übergriffe
Wie in den vergangenen Wahlkämpfen wurden auch diesmal Plakate vieler Parteien zerstört, gestohlen oder beschmiert. Rechtsradikale, antisemitisch konnotierte und verschwörungsideologische Schmierereien auf den Plakaten der großen Parteien waren in Aachen diesmal seltener als in den Vorjahren. Zugleich beklagten Parteien wie SPD, CDU, Grüne und FDP im Umland und in den Kreisen Düren und Heinsberg zum Teil massiven Vandalismus an ihren Plakaten. Auch volksverhetzende und rechtsgerichtete Schmierereien oder Sprühaktionen waren zu verzeichnen.
In Wassenberg wurden etwa Plakate von mutmaßlich Rechtsradikalen besprüht. Grünen-Plakate wurden symbolisch durchgestrichen. Plakate mit Bildern von Politiker*innen der Bündnis-Grünen und der SPD mit Beleidigungen und Losungen wie „Verbrecher“, „Volksverräter“, „H***nsöhne“ und „AfD wählen“ besprüht. Ähnliche Vorfälle gab es auch im Aachener Umland und anderen Ortschaften der genannten Kreise, auch in Eschweiler wurden Plakate mit „Volksverräter“ besprüht. Die Grünen in Stolberg beklagten erhebliche Beschädigungen und Verluste von Plakaten, gerade „Themenplakate, insbesondere solche mit Slogans gegen rechts und für Demokratie“ seien in manchen Stadtteilen nahezu komplett heruntergerissen und gestohlen worden. Dagegen verzeichnete die AfD sowohl in der Städteregion als auch im Kreis Heinsberg einen drastischen Rückgang von Beschädigungen und Schmierereien an ihren Plakaten.
Zu schweren Übergriffen auf Wahlkampfhelfer*innen und Politiker*innen kam es in der Region nicht. Gleichwohl wurde aus Düren und Heinsberg über Bedrohungen und Drohschreiben gegen Politiker*innen sowie Pöbeleien an Infoständen und gegenüber Plakatierer*innen berichtet. Von „wüsten Pöbeleien durch Passanten“ gegenüber Plakatierer*innen berichteten die Grünen in Stolberg.
Bereits vor Beginn des regulären Straßenwahlkampfes führte die AfD in Eschweiler und Aachen Infostände im Zusammenhang mit der Europawahl durch – Ende Februar in Eschweiler, Anfang März am Elisenbrunnen und Ende März vor dem Aachener Rathaus. Alle Infostände waren als Kundgebungen angemeldet und wurden von teilweise radikalen Redebeiträgen begleitet. In allen drei Fällen kam es zu Gegendemonstrationen.
Später führte die AfD zwar ähnliche kleine Kundgebungen mit Infoständen durch, die thematisch jedoch weniger mit der Europawahl zu tun hatten. Statt klassischen Wahlkampf zu betreiben, skandalisierten die Parteivertreter*innen den Bau neuer Flüchtlingsunterkünfte in Stolberg und Eschweiler sowie den Bau neuer Windparks in den südlichen Ortschaften und Wäldern Stolbergs. Die AfD organisierte in diesem Zusammenhang dynamisch und relativ spontan Aktionen, bei denen erneut radikale Reden gehalten wurden – oder sie demonstrierte im Umfeld von städtischen Informationsveranstaltungen.
„Moralisch höchst verwerflich und völlig stillos“
In Reden und Propaganda in sozialen Netzwerken verbreitete die AfD auch in solchen Fällen Fake News und agitierte bei einer Kundgebung in Eschweiler aggressiv und radikal gegen Kommunalpolitiker*innen und Behördenvertreter*innen. Zum Thema Windparks hieß es in einem Facebook-Posting: „Der Stolberger Wald wird durch den Bau von ‚erstmal’ 8 Windkraftanlagen zerstört.“
„Moralisch höchst verwerflich und völlig stillos“, überschrieb die Lokalzeitung ihren Kommentar über das populistische Vorgehen der rechtsradikalen Partei. Dabei streute die AfD – siehe oben, wobei suggeriert wurde, dass der ganze Wald zerstört werde – auch die Lüge, „dass Stolberg zu einem der größten Flüchtlingsghettos der Region ausgebaut“ werde. Überdies setzte die AfD verfälschend Sparmaßnahmen in der Kinderbetreuung einer sozialen Einrichtung in einen Kontext mit den Kosten für die Flüchtlingsbetreuung.
Ähnliche Debatten in der Kommunalpolitik im Kreis Düren und in Geilenkirchen wurden von der AfD für populistische bis rechtsradikale Postings in den sozialen Medien oder für Flugblattaktionen genutzt. In Geilenkirchen hatte es zuvor eine äußerst hitzige und zugespitzte Debatte um den Bau einer neuen Zentralen Unterbringungseinrichtung (ZUE) für Geflüchtete gegeben. In den Flugblättern, die die AfD schließlich verteilte, schrieb die Partei von „[e]ine[r] große[n] Welle, oft illegaler Masseneinwanderung.“
Schulpodien und „Wahlarena“
Mehrere Schulen in der Region – unter anderem in Erkelenz, Heinsberg, Eschweiler, Wassenberg und Stolberg – veranstalteten Podiumsdiskussionen oder andere Diskussionsformate mit (Lokal-)Politiker*innen und Abgeordneten zur Europawahl, zu denen auch Vertreter*innen der AfD eingeladen waren. Zwei Veranstaltungen sorgten für Aufsehen und Schlagzeilen. In Herzogenrath hatten Antifaschist*innen und Jusos zuvor die Falschmeldung verbreitet, dass der umstrittene und extrem rechte Spitzenkandidat Maximilian Krah zu einer Podiumsdiskussion anreisen würde. Es kam zu kleineren Gegenprotesten – Krah war nie eingeladen gewesen.
Proteste gab es Anfang April auch in Aachen auf dem (öffentlichen) Vorplatz des Städtischen Gymnasiums St. Leonhard. Dort demonstrierten rund 30 Antifaschist*innen gegen einen Infostand der AfD. In den Pausen schlossen sich ihnen rund 100 Schüler*innen an. Die AfD war mit knapp 10 Personen vor Ort. An dem Gymnasium fand an diesem Vormittag eine Podiumsdiskussion zur Europawahl statt. Eigentlich sollte daran auch Irmhild Boßdorf aus Königswinter teilnehmen, die dem extrem rechten Flügel der AfD angehört.
Boßdorf hatte Mitte 2023 mit einer radikalen Rede auf dem Parteitag in Magdeburg bundesweit für Schlagzeilen gesorgt. Dort wurde sie auf Listenplatz 9 für die Europawahl gewählt. Sie hatte unter anderem eine „millionenfache Remigration“ gefordert. Die Schule hatte die AfD-Frau kurzfristig wieder ausgeladen, da ein geordneter und geregelter Ablauf der Podiumsdiskussion nicht gewährleistet werden könne. Boßdorf reiste dennoch an und beteiligte sich am Infostand der AfD, der sich gegen ihre Ausladung richtete. Vertreter*innen der Bezirksschüler*innenvertretung und Antifaschist*innen bewegten Boßdorf dann noch zu einer kontroversen Debatte im Stuhlkreis vor der Schule.
Die AfD hatte nach eigenen Angaben bei der Bezirksregierung Köln Dienstaufsichtsbeschwerde gegen die Ausladung ihrer Kandidatin eingelegt. Einer späteren Veröffentlichung der Partei zufolge war diese Beschwerde auch erfolgreich und die Ausladung Boßdorfs durch die Schule in Aachen nicht rechtens. Boßdorf nahm auch an der „Wahlarena“ der IHK Aachen teil. Eine Woche vor der Wahl besuchte die Kandidatin zudem mit Mitgliedern der Parteijugend „Junge Alternative“ (JA) kurz Aachen, um mit lokalen Parteifreunden einige wenige Plakate aufzuhängen und Flyer zu verteilen. Die JA gilt in NRW als rechtsextremistischer Verdachtsfall, das Bundesamt für Verfassungsschutz stuft die JA als gesichert rechtsextremistisch ein. (mik)