Hybride Propaganda: Ehrt Aachen einen „Nazi“ und „Faschisten“?

Aachen. Nach Bekanntgabe der designierten Preisträger*innen des Karlspreises 2023 reichte die hybride Kriegsführung respektive der direkte und indirekte Propagandakrieg Russlands bis nach Aachen. Denn unter anderem in den sozialen Medien geht es in Kriegszeiten turbulent zu, die Dynamik dabei war und ist teils atemberaubend. So war es auch im Dezember, nachdem mitgeteilt worden war, dass das ukrainische Volk und dessen Präsident Wolodymyr Selenskyj bald geehrt werden.

Mitte Dezember hat das Karlspreis-Direktorium mitgeteilt, es werde in diesem Jahr das ukrainische Volk als „Opfer eines völkerrechtswidrigen und unsäglich brutalen russischen Angriffskrieges“ und den Präsidenten Wolodymyr Selenskyj auszeichnen. Beide würden „Europa und die europäischen Werte“ verteidigen. In Kriegszeiten eine (unfreiwillige) Kriegspartei zu würdigen, zieht gleichwohl immer Kritik(er*innen) nach sich. Diese kann berechtigt sein. Allerdings beherrschen Diffamierungen, Hetze und Fake-News eher das, was man als hybride Propaganda umschreiben könnte.

„Nazi“, „Faschist“, „Kriegstreiber“ und Jude

Nachdem am 16. Dezember die ersten Meldungen über die Nachrichtenticker liefen, begann in den Chats und anderen Kommunikationswegen der „Querdenker*innen“, Rechten und „Reichsbürger*innen“ das übliche Grundrauschen. Die russische Propaganda über die „Befreiung“ der Ukraine von „Nazis“ schwang dabei oft unterschwellig mit. Neben allerlei Häme und Spott hieß es in solchen Kreisen, in Aachen werde ein „Nazi“ und „Faschist“ sowie „Kriegstreiber“ geehrt. Die Empörung darüber war groß, was sich diese „Etablierten“ oder „Eliten“ da trauten in der Kaiserstadt.

Dass Selenskyj Jude ist, ist in solchen Kreisen kein Widerspruch zu den Schmähungen und Diffamierungen. Schon länger gibt es in dieser Szene Menschen, die von einer (auch jüdischen) Weltverschwörung fabulieren. Sie nennen das heute den „Globalfaschismus“, einen „Eliten-Faschismus“ oder einen Plan der „New World Order“ (NWO). Hinter den „Kulissen“ würden „Eliten“ und „Strippenzieher“ oder „Marionettenspieler“ agieren. Selenskyj kann jener wahnhaften und ideologischen Erzählung nach also sowohl Jude, als auch „Nazi“ sein – oder auch nur eine „Marionette“, die an den Stippen oder Fäden dubioser „Mächte“ hängt. In „Spaziergänger*innen“-Chats wurde später etwa behautet, manche Ukrainer*innen seien „Zionazis“. „Zionazis“ seien demnach eine Gruppe von jüdischen Weltenlenkern, die heimtückisch die Völker gegeneinander aufhetzten. Das glich einer Hetze, die aus dem historischen Antisemitismus bekannt ist, allerdings quasi-modernisiert angepasst auf den Krieg gegen die Ukraine verbreitet wurde.

Solche und ähnliche Inhalte verbreiteten auch mutmaßlich Bots in den Chats der „Querdenker*innen“, Rechten und Verschwörungsgläubigen zwischen Heinsberg, Düren und Aachen. In anderen sozialen Netzwerken, etwa bei Twitter, verbreiteten Trolle ab dem 16. Dezember ebensolche Hetze. Anders sah das die offen neonazistische Szene, die in ihren nicht ganz so öffentlich zugänglichen Chats und Foren den Hass auf Jüdinnen und Juden radikaler auslebt. Dort wurde etwa betont, dass es dem Juden Selenskyj sicher gefalle, diesen Preis zu erhalten. Auch Schmähbegriffe wie „Schlemihl“ und „Itzig“ wurden dabei verwendet.

Sozialpopulismus und Fremdenfeindlichkeit

Andere Menschen aus der rechten bis rechtsextremen Szene verfolgten unter anderem bei Facebook-Debatten eine andere Taktik. Emotionen spiel(t)en dabei eine enorm wichtige Rolle. Verfängt ein solches sozialpopulistisch bis fremdenfeindlich konnotierte Vorgehen, können solche Meinungen respektive Vorurteile viral gehen und werden zuweilen selbst vom „bürgerlichen“ Spektrum geliked, geteilt und weiterverbreitet.

So las man in den Facebook-Kommentaren, dass Selenskyj und die Ukrainer*innen den Preis nicht verdient hätten. Zuweilen gab es Kritik an Selenskyj und Anspielungen in Sachen Oligarchen und Korruption. Wiederholtes Framing war zudem, dass die Tafeln den Preis verdient hätten. Immerhin kümmerten sich diese um arme Menschen und Rentner*innen. Indirekt spielte man so auch Geflüchtete aus der Ukraine aus gegen einheimische Arme. Über die Ukrainer*innen war zuvor immer wieder von Fremdenfeinden verbreitet worden, sie seien geflohen in Nobelkarossen, gingen etwa auf der Düsseldorfer Kö’ oder dem Berliner Ku’damm luxuriös shoppen oder sie pendelten regelmäßig mit Bussen („Sozialtourismus“), sicherten sich also „bei uns“ Sozialleistungen und fuhren sodann wieder in die Heimat.

Mit berechtigter Kritik am Karlspreis oder an Selenskyj hatte all das wenig zu tun. Es ging um Diffamierung, um die Spaltung der Gesellschaft und letztlich auch um das indirekte Verbreiten von Kriegspropaganda. In ein anderes Horn blies am 18. Dezember ein Verschwörungsideologe aus der Region im Zentralorgan der Querfront. Wie nicht selten in solchen Kreisen wurden dabei Wahres und russische Kriegspropaganda mit Meinung(en) und Verschwörungsmythen vermischt.

Alles Nazis, außer bei der Querfront...

Die Kritik an Wladimir Putin, dem Präsidenten der Russischen Föderation, fiel dabei minimalistisch aus. Gleichwohl erfuhr man von dem Verschwörungsideologen: „Und was tut Selinskyj [sic!] für die Einheit Europas? Nichts! Im Gegenteil: Selinskyj [sic!] ist als amtierender Präsident der Ukraine mitverantwortlich für den Krieg, den ukrainische Streitkräfte seit 2014 gegen die Donbass-Regionen führen, der ca. 14000 Todesopfer gefordert und der Bevölkerung dort unsägliches Leid gebracht hat. […] Dieser so begonnene Krieg eskalierte mit Unterstützung der USA und weiterer NATO-Staaten, u.a, Deutschlands […]“

Ohne zunächst Kritik an Putins Krieg und der gezielten Vernichtung ukrainischer Infrastruktur zu äußern polemisierte am 28. Dezember ein angeblich marxistischer Querfront-Protagonist: „Dieser Typ [Selenskyj; mik] ruft das Ukrainische Volk auf, unbedingten Widerstand gegen Russland zu leisten […]. Und sein Volk regiert darauf zu breiten Teilen wie seinerzeit breite Teile der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Sportpalast-Rede des Dr. Joseph Goebbels regierten.“ Meint wohl: Die Ukrainer*innen sind mit den fanatisierten Nazis im Sportpalast von 1943 vergleichbar. Nach zahlreichen Leser*innenbriefen in der Lokalzeitung, in denen insbesondere Selenskyj scharf angegangen und kritisiert wurde, stellten Anfang Januar mehrere Leser*innen fest, frühere Zuschriften erinnerten an russische Propaganda oder zeigten, wohin deren „Einflussnahme“ bei den anderen Leser*innen respektive in deren Zuschriften geführt habe.

Rund um die Verleihung des Karlspreises 2023 wurde und wird wohl auch Aachen zum Ziel einer hybriden Kriegsführung, etwa mittels Bots und Trollarmeen aus Putins Propaganda-Abteilungen. Ansatzweise gab es ähnliches schon bei der Karlspreis-Verleihung 2015 beziehungsweise 2018. Unter anderem waren der russische Sender „RT deutsch“ sowie dessen Ableger vor Ort, in beiden Jahren war auch der damalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko unter den Feiergästen.

Putins Wiedergänger*innen...?

In einem vermeintlich unbeobachteten Moment zielte man seinerzeit auf Poroschenko. Der saß an jenem Tag am Rande offizieller Termine auf der Katschhof-Terrasse des Ratskellers, schien bester Laune, sehr gelöst, schwankte etwas und gönnte sich ein Getränk. Einen Videoschnipsel davon verbreiteten die deutschen Ableger russischer Staatsmedien via Web. Im Zuge der Krise um die Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim wurde das Video mit Anspielungen garniert, Poroschenko sei Alkoholiker und könne sich im Ausland auch bei offiziellen Feierlichkeiten nicht benehmen. Unterhaltsame Vorfälle mit einem alkoholisierten Boris Jelzin waren da wohl schon in Vergessenheit geraten.

Auch in einer seinerzeit einschlägig bekannten Aachener Facebook-Gruppe wurde während und kurz nach der Preisverleihung am 14. Mai 2015 russische Propaganda verbreitet. Poroschenko wolle „Konzentrationslager für Ostukrainer“ errichten, postete ein Rechtsradikaler. Und: „Dieser niederträchtige Faschist verdreckte heute meine Stadt! […] Ich hätte diesem Dreckskerl (Poroschenko) ins Gesicht gespuckt!“ Eine Rechtsradikale verbreitete Bilder von ukrainischen Neonazis und nannte sie „Poroschenkos Gefolgschaft“. Ein anderer User schrieb: „Faschistenpack in Aachen, und dass sogar mit Einladung[.]“ Und ein Verschwörungsgläubiger und Mann aus dem Sicherheitsgewerbe schrieb, anspielend auf das Framing („Dreck“): „Ich glaube, die Stadtreinigung hat heute ganz viel zu tun.“

Fast schon milde wirkte demgegenüber 2015 das selbst gemalte A4-Blatt eines Demonstranten, der sich unter eine Versammlung linker und progressiver TTIP-Gegner*innen gemischt hatte. „Poroshenko not welcome in Aachen!“, war darauf zu lesen gewesen. Auch 2022 kam es zu Gegenprotesten. Seinerzeit zeigte ein Gegendemonstrant aus dem Querfront-Lager bei der Ehrung von Maria Kalesnikava, Swetlana Tichanowskaja und Veronica Tsepkalo – die gegen die Lukaschenko-Diktatur in Belarus kämpfen – provokativ die Flagge Weißrusslands zu Zeiten der Sowjetunion („Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik“).

Auch 2023 will die Querfront in Aachen gegen die Verleihung des Karlspreises demonstrieren. Zwar steht momentan noch gar nicht fest, ob dieser traditionell am Himmelfahrtstag verliehen wird oder in welcher Form dies aus aktuellen Gründen überhaupt möglich wäre. Gleichwohl wird schon dazu aufgerufen, sich den Tag frei zu halten zwecks Demonstration – natürlich gegen den „Kriegstreiber“ Selenskyj. (mik)