Der ewige Antisemitismus: Serie antisemitischer Taten in Geilenkirchen

Kreis Heinsberg. Geilenkirchen ist eine überschaubare Kleinstadt mit rund 30.000 Einwohner*innen, nicht wenige davon leben in den Außenorten, also in Dörfern, Siedlungen und Weilern. Neben dem Ortsteil Teveren liegt die Nato-Airbase. Dank der dort stationierten Awacs-Flotte ist die Kleinstadt zwischen Aachen und Mönchengladbach europaweit bekannt. Nur lokal bekannt ist eine ungewöhnliche Serie antisemitischer Straftaten.

Zwischen Weihnachten und Silvester 2019 verwüsteten zwei Neonazis den am Innenstadtrand ruhig gelegenen jüdischen Friedhof. Sie stießen viele der Grabsteine um, einige davon zersprangen, andere besprühten sie mit unsinnigen Symbolen. Es war die massivste Schändung eines solchen Friedhofes in Nordrhein-Westfalen seit Jahren. In Tatortnähe stellte die Polizei mitten in der Nacht das Duo. Zu jener Zeit lebten beide im rund zehn Kilometer entfernten Gangelt.

In dieser Gemeinde im Kreis Heinsberg war der abgelegene jüdische Friedhof Mitte 2019 schon geschändet worden. Diese Tat gilt mangels Beweisen bis heute als nicht aufgeklärt. Dennoch glaubten Ermittler*innen, Beobachter*innen und „Kamerad*innen“ nicht an einen Zufall, als im Dezember 2019 ausgerechnet die Neonazis aus Gangelt als Verdächtige in Geilenkirchen verhaftet wurden. Wegen der Zerstörungen in Geilenkirchen wurden der Heranwachsende und ein Mittdreißiger Mitte 2022 dann vom Amtsgericht zu Haftstrafen auf Bewährung verurteilt.

Beide waren zur Tatzeit im Umfeld der Kleinstpartei „Die Rechte“ (DR) und der ihr untergeordneten Neonazi-Gruppe „Syndikat 52“ (S52) aktiv. Der Ältere engagierte sich schon in der 2012 verbotenen „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL). Bei der KAL-Razzia im August 2012 hatte man, ebenso wie im Oktober 2013, bei dem Neonazi auf Datenträgern kinderpornografisches Material gefunden. 2014 verurteilte ihn deswegen das Amtsgericht Geilenkirchen. Ähnliches Bildmaterial fanden Polizisten, als sie wenige Stunden nach der Schändung in Geilenkirchen erneut zur Hausdurchsuchung anrückten. Als am 11. Februar 2023 hunderte Neonazis in Dresden der Opfer des Bombardements 1945 „gedachten“, nahmen beide Grabschänder ebenso am Aufmarsch teil.

Straftaten gegen die Gedenkkultur

In Geilenkirchen gibt es eine wachsame Zivilgesellschaft, die sich gegen Antisemitismus wehrt und das Gedenken an die Opfer der Schoa sorgsam pflegt. Nach der Schändung des jüdischen Friedhofes fand am Holocaust-Gedenktag im Januar 2020 eine große Demonstration auf dem in einem Tal liegenden Marktplatz statt. Hunderte Schüler*innen und Erwachsene verurteilten die Tat. Michael Rubinstein, damals Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Nordrhein, dankte als Redner den Menschen für ihre Solidarität und Anteilnahme.

 

Bei der Kommunalwahl 2014 zog ein Vertreter der NPD in den Stadtrat ein, 2020 traten die Neonazis nicht mehr an. 2021 war kurzzeitig der „Jungsturm Geilenkirchen“ aktiv, angelehnt an die „Jugendoffensive“ der NPD-Jugend. Im Herbst 2019 stellten die Ermittler*innen Sprüh- und Plakataktionen in Geilenkirchen und an Bushaltestellen bis nach Gangelt fest. Ins Protokoll aufgenommen wurden Hakenkreuze und rechtsextremen Parolen wie „Freiheit für Ursula Haverbeck“, eine seinerzeit inhaftierte Holocaust-Leugnerin.

Rund um das Pogromnacht-Gedenken 2021 beschmierten Unbekannte mehrere Stolpersteine in Geilenkirchen mit Farbe. Am 9. November 2022 wiederholte sich das. Nachdem städtische Mitarbeiter*innen die Farbe entfernt hatten, erfolgten Tage später drei weitere Farbattacken auf dieselben Stolpersteine. Die in den Bürgersteig eingelassenen Gedenksteine erinnern vor den ehemaligen Wohnhäusern an die von den Nazis ermordeten Jüdinnen und Juden. Karl-Heinz Nieren hält bis heute Kontakt zu Nachfahren und Angehörigen der damals hier lebenden Jüdinnen und Juden. Er informierte sie 2019 auch über die Schändung des Friedhofes. Nach den neuen Vorfällen, sagte Nieren, habe er die „jüdischen Freunde“ der Stadt „nicht schon wieder damit beunruhigen“ wollen. Der Senior sagt, er wisse, dass „sie das auch sehr bedrückt, beunruhigt und belastet.“

Am Holocaust-Gedenktag 2023 wurde eine „Bank gegen Ausgrenzung“ am jüdischen Friedhof zerstört. Solche Bänke werden von einem Sozialprojekt gebaut und im Kreisgebiet an symbolträchtigen Orten aufgestellt. In Geilenkirchen stand sie auf dem Vorplatz zum jüdischen Friedhof. Der Platz war im Herbst 2022 feierlich nach Anita Lichtenstein benannt worden, ein jüdisches Mädchen, das 1942 in Majdanek ermordet wurde. Seinen Namen trägt auch eine Gesamtschule. Bei der Einweihung des Platzes erinnerte Bürgermeisterin Daniela Ritzerfeld daran, es sei „notwendig, dass man sich weiterhin mit einem der dunkelsten Kapitel unseres Landes und auch unserer Stadt befasst.“

Offenkundig wollen manche dieses Anliegen jedoch stören. Hans Bruckschen, Sprecher der „Initiative Erinnern“ und Lehrer an der Anita-Lichtenstein-Gesamtschule, erklärte an Karnevalsfreitag, in der Initiative und der Schule sei man „fassungslos“ angesichts der Schändung der Stolpersteine und der Zerstörung der Bank. Bruckschen gab gleichwohl zu bedenken, dass es unklar sei, ob die Bank Ziel von „einfachen Vandalismus“ oder einer extremistisch motivierten Tat wurde. „Da keine weiteren Elemente zerstört wurden, ist das Bild nicht eindeutig.“

Bruckschens Worte von Karnevalsfreitag, jenem Freitag kurz vor dem Gedenkwochenende für die Opfer der rassistischen Morde in Hanau am 19. Februar 2020, wirken heute wie ein unfreiwilliges Omen. Stunden später, in der Nacht zum Samstag, den 18. Februar 2023, zerstörten Unbekannte die zwischenzeitlich neu aufgestellte Bank erneut.

Vandalismus oder Antisemitismus?

Den Namen von Christel und Hermann Wassen trägt seit Juni 2022 ein von Hecken umgebener Platz neben dem Markt. Das Ehepaar – er starb 1993, sie 2010 – war zeitlebens bemüht um den Dialog mit Jüdinnen und Juden, die im Nationalsozialismus aus Geilenkirchen fliehen konnten – oder es pflegte Kontakte zu den Nachfahren der Ermordeten. Zentrales Element auf dem Platz ist ein Stein aus dem Mauerwerk der alten Synagoge. Einige Zeit vor der feierlichen Einweihung wurde er auf den Sockel montiert.

Bald darauf jedoch stießen Unbekannte den Stein um und beschädigten ihn. Unklar ist auch hier, ob es sich um Vandalismus handelte oder um eine antisemitische Tat. Gleichwohl erinnert der Vorfall daran, dass zwei Jugendliche – beide nicht Teil der rechten Szene – schon im August 2010 im betrunkenen Zustand einen massiven Gedenkstein auf dem Synagogenplatz zerstört hatten. Auch diese Tat trug sich im zentralen Innenstadtbereich rund um Markt, Rathaus und Amtsgericht zu.

Im Prozess wegen der Schändung des jüdischen Friedhofes trat die Stadt als Adhäsionsklägerin auf. Die unterdessen rechtskräftig verurteilten Täter sollen auch die Kosten für die Wiederherrichtung der Grabsteine tragen. Nach den Schändungen der Stolpersteine lobte die Stadt für konkrete Täterhinweise eine Belohnung von 1.000 Euro aus. Bislang vergebens. (mik)