Die Erregten: „Freie Linke“ agieren am Rande der „Querdenker“
Aachen. Bei den Protesten von Gegner*innen der Corona-Schutzmaßnahmen und am Rande der „Querdenker*innen“ ist seit geraumer Zeit die politische Kleingruppe „Freie Linke“ aktiv. Anders als in manchen anderen Regionen entstammen die Aktivist*innen im Raum Aachen überwiegend der altbekannten linken Szene und der Friedensbewegung, fielen indes wie ihre „Genoss*innen“ in Bund und Land auch durch verbale Angriffe gegenüber Antifaschist*innen oder durch die Relativierung Nazideutschlands auf. Am Samstag organisierten sie einen Vortragsabend – die Referenten entstammten teils einem unterdessen nach rechtsaußen abgewandertem Spektrum ehemaliger „Antideutscher“.
„Antideutsche“ sind Aktivist*innen aus dem radikal linken Spektrum, die angesichts der Geschichte Nazideutschlands und des Holocausts solidarisch zum demokratischen Staat Israel und zu Jüdinnen und Juden stehen. Linke „Antiimperialist*innen“ kritisieren demgegenüber Israel als einen kapitalistischen, imperialistischen Satellitenstaat inmitten arabischer, teils autokratischer und islamistischer Länder. Palästinensische Milizen werden als – vermeintlich – sozialistisch-verbündete „Freiheitskämpfer*innen“ angesehen. „Antideutsche“ stehen demgegenüber Israel zur Seite und kämpfen gegen den Antisemitismus auch unter Palästinenser*innen, Arabern oder Muslimen.
In Berlin kam es im Verlauf linker Demonstrationen zur Hochzeit der „Antideutschen“ vor vielen Jahren zuweilen zu heftigen Auseinandersetzungen bis hin zu Schlägereien mit „Antiimps“ oder mit Aktivist*innen pro-palästinensischer Gruppen. Auf Außenstehende wirkte das bizarr und verworren, intern zerstritten sich jedoch politisch Aktive und Gruppen aus den unterschiedlichen Spektren der radikalen Linken und der Friedensbewegung. Bisweilen herrschen solche Verstimmungen und Streitereien bis heute an. Manche „Antideutschen“ wanderten zwischenzeitlich ab ins extrem rechte Lager, etwa der frühere Kommunist und heutige Verschwörungsunternehmer Jürgen Elsässer.
Andere frühere „Antideutsche“ verbreiten antimuslimische Inhalte und stehen heute politisch rechten Ideologien nahe, etwa jenen die auch der frühere US-Präsident Donald Trump, die US-„Republikaner“ oder die „Alt-Right“-Bewegung (Alternative Rechte) vertreten. Diese ehemaligen „Antideutschen“ agieren zum Teil heute publizistisch gegen die „etablierte“ Linke, polemisieren gegen Antifaschist*innen und Muslime. Bisweilen werden Sympathien für die AfD sichtbar. Ähnlich wie Trump und die AfD agieren oder demonstrieren solche Kreise gegen die Corona-Schutzmaßnahmen. Ein „terrori[stischer] Seuchenstaat“ sei da am Werk, der den „Eintritt in eine neue, totalitäre Epoche“ einleite, verunglimpfen solche Kreise etwa den liberalen, demokratischen Rechtsstaat.
Frei wie ein komischer linker Vogel
Auch Aktivist*innen der „Freien Linken“ (FL) äußern sich in einem ähnlichen Duktus gegen die Corona-Maßnahmen. Vertreter*innen aus dem Raum Aachen waren schon vor der Gründung der FL in die Proteste gegen die Coronapolitik involviert. Während diese Personen sich selbst noch als Nazigegner*innen definieren, demonstrierten sie zugleich gemeinsam mit „Querdenker*innen“, AfD-Anhänger*innen, Rechtsradikalen und „Reichsbürger*innen“. FL-Aktivist*innen distanzierten sich zwar vor Monaten von einer Demonstration im niederländischen Kerkrade und verließen diese empört, weil einer der Teilnehmenden ein Hakenkreuz-Shirt trug. Dass bei derselben Versammlung und einer früheren in Aachen zugleich aber ein rechtsextremer „Reichsbürger“ auftrat und auch im Großraum Aachen immer wieder optisch unverfänglich wirkende Rechte an den Protesten teilnehmen oder sich sogar als „Antifaschisten“ inszenierten, wurde kaum hinterfragt.
In Aachen fiel die FL nach ihrer Gründung auf, da sie gegen das Impfen agiert. Bei einem Aktionstag von „Querdenker*innen“ aus ganz Nordrhein-Westfalen in Aachen besuchte die FL im Juni bewusst die Kundgebung, die sich explizit gegen die „Impf-Apartheid“ richtete. Später organisierte die „Freie Linke“ eigene Proteste gegen das Impfen respektive die „Spaltung“ der Gesellschaft zwischen Geimpften und Ungeimpften. An ihren „linken“ Versammlungen konnten gleichwohl auch Personen teilnehmen, die dem rechten Spektrum angehören. In anderen Fällen demonstrierten FL-Vertreter*innen gemeinsam mit AfD-Mitgliedern.
Bei solchen Kundgebungen und bei der FL engagiert sind auch Personen aus der linken Szene, die sich zuvor schon offen zeigten für Verschwörungserzählungen, beispielsweise auch „Israel-kritische“ via KenFM. Bei und nach einem Besuch des Verschwörungsideologen Ken Jebsen 2016 in Aachen kam es schon zu Streit. Im Nachklang wurde in dem heutigen Verlautbarungsorgan der regionalen „Freien Linken“ gegen Antifaschist*innen gewettert, die dabei in die Nähe von staatlichen Geheimdiensten gerückt wurden. Derzeit rufen die „Freunde sozialistischer Gesellschaften“ und die „Freie Linke Aachen“ für den 7. November zu einer geschichtsrevisionistischen „Gedenkveranstaltung“ auf. Im „Gedenken“ an die „verratene“ Novemberrevolution 1918 bezichtigt man dabei die SPD, mit schuld an der Nazidiktatur und der Judenverfolgung zu sein.
Zwei Punkte bei den meisten regionalen „Freien Linken“ sind anschlussfähig mit aktuellen politischen Inhalten aus Teilen der linken bzw. friedensbewegten Szene. Zum einen positionierten sich heutige FL-Vertreter*innen in der Vergangenheit und noch heute antiimperialistisch und „Israel-kritisch“. Zum anderen traten und treten sie für einen Umweltschutz im Sinne auch des Klimaschutzes sowie für die Rettung des Hambacher Waldes oder der vom Braunkohleabbau bedrohten Orte im Rheinischen Revier ein. „Freie Linke“ nahmen vor und nach der FL-Gründung etwa auch an Demonstrationen von „Fridays for Future“ und solchen zur Rettung des „Hambi“ teil. Gleichwohl stieß dies immer mehr auf Kritik, weil FL-Aktivist*innen etwa mit Rechten und Antisemit*innen paktierten.
Schon im Verlauf des „Querdenken“-Aktionstages im Juni (s.o.) war es fast zu einer Schlägerei gekommen. Ein „Freier Linker“ verließ die „Querdenken“-Kundgebung im Elisengarten und wechselte in die antifaschistische, die sich vor dem Elisenbrunnen gegen „Querdenker“ und Antisemiten richtete. Der Mann wollte dort FL-Flyer verteilen. Zuerst wiesen Antifaschist*innen und „Omas gegen Rechts“ ihn noch einigermaßen freundlich, alsbald jedoch immer aggressiver darauf hin, dass sein Handeln eine Provokation sei und er wieder gehen solle. Ungeachtet dessen verteilte der „Freie Linke“ weiter Flyer. Nach wenigen Minuten spitzte sich die Lage so zu, dass die Polizei eingreifen musste.
Das sehr große Eckige muss ins sehr kleine Runde
Die „Freie Linke“ ist im Raum Aachen heterogen und eine Splittergruppe. Ihre markanten roten Fahnen mit dem gelb umrandeten roten Stern erinnern an Marxismus und Kommunismus, an die „Rote Armee Fraktion“ (RAF) oder die Landesfahnen von China und Vietnam. Während einige Aktivist*innen von der Revolution träumen, vertreten andere „freie“ Inhalte, die mehr nach Anarchie, Selbstverwaltung und links-grünem Umweltschutz und einem sehr naturverbundenen Leben klingen. Unter den FL und in deren Umfeld engagieren sich auch noch aktive oder schon abtrünnig gewordene (Ex-)Mitglieder und -Funktionär*innen der Partei „Die Linke“. Bei diesen handelt es sich oft um solche, die eher dem Flügel um Sarah Wagenknecht zuzurechnen sind, die zuvor schon einen Hang zu linken Verschwörungsmythen hatten (s.o.) oder anti-israelische und pro-palästinensische Meinungen vertreten.
Jener Personenkreis veranstaltete am Samstag in einer linksalternativen Kneipe einen Infoabend. Eingeladen waren aus Berlin angereiste Autoren bzw. Herausgeber der Broschüre „Der Erreger“. Kritisch bis polemisch aufgearbeitet werden in der Textsammlung die Corona-Maßnahmen, die angeblich den „terrori[stischen] Seuchenstaat“ (s.o.) schufen. Die Autoren bzw. Herausgeber sind auch ehemalige „Antideutsche“, schreiben teils heute für den rechtsoffenen und umstrittenen Blog „Achse des Guten“. Oder sie schrieben einst für das linke Diskursorgan „Bahamas“, das heute indes die „Bild“-Zeitung für ihre Berichterstattung lobt – bekanntlich wollten die historischen Vorbilder der FL-„Spontis“ in Aachen noch vor vielen, vielen Jahren den Springer-Verlag enteignen.
Organisiert von der FL gastierten in Aachen an jenem Abend also Referenten, die einem eher speziellen Bereich des rechten Spektrums nahe stehen. Den Staat Israel verteidigen Teile dieser Aktivsten und eine Handvoll angereister Besucher*innen aus der Region, aus Düsseldorf und Köln weiterhin, auch wenn aktuell besonders die israelische Impfpolitik kritisiert wird. Das, was auf Außenstehende kurios anmutet, war also das politische Crossover an dem Abend in Aachen. Menschen, die – abgesehen von der dortigen Impfpolitik – solidarisch zum israelischen Staat, zu Judentum und den jüdischen Gemeinden in Deutschland stehen, gastierten bei teils über Jahrzehnte aktiven Protagonist*innen, die ansonsten Israel als militärisch-aggressiven Brückenkopf des Imperialismus im Nahen Osten ablehnen oder gar die Aktivitäten der BDS-Bewegung begrüßen bzw. gut finden.
Solche politischen Widersprüche unter Referenten und Zuhörer*innen in diesen und anderen Belangen kommentierte ein Vertreter der „Freien Linken“ in einem Nachbericht über den Vortragsabend mit folgenden Worten: „Aber diese Widersprüche blieben völlig im Hintergrund, weil die ‚Corona-Frage‘ sich zu DER entscheidenden Trennungslinie in der [sic!] (ehemaligen?) linken/sozialistischen Strukturen entwickelt hat und auf DIESER Veranstaltung an DIESER Frage komplette Einigkeit bestand!“ Eine kurios anmutende Querfront also, die von großen Teilen des aktuellen, „etablierten“ linken Spektrums nicht als Verbündete, sondern als Problem angesehen wird. (mik)