Karlspreis 2023: Querfront kontra Ukraine und Selenskyj

Aachen. Am Sonntag wurden in Aachen das ukrainische Volk und Präsident Wolodymyr Selenskyj als „Opfer eines völkerrechtswidrigen und unsäglich brutalen russischen Angriffskrieges“ mit dem Karlspreis geehrt. Es gab Gegendemonstrationen, darunter eine aus dem rechten Spektrum, eine von „Querdenkern“ und eine aus dem Querfront-Lager. Pro-russische Propaganda-Anleihen und Verschwörungserzählungen waren nicht selten. Dagegen setzten eine pro-ukrainische Demonstration und die Stadtgesellschaft ein eindrucksvolles Zeichen. Gestern verlieh dann das Querfront-Spektrum seinen „alternativen Karlspreis“.
Während das Karlspreis-Direktorium seinen Preisträger*innen attestierte, sie würden „Europa und die europäischen Werte“ verteidigen, hatte der Gegenprotest dazu seine eigene Sichtweise. Relativ früh schon hatte die regionale Querfront Selenskyj als einen „Kriegstreiber“ markiert – und nicht etwa den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Diesem Narrativ folgte auch die „Querdenken“-Partei „dieBasis“, die Tage zuvor auch die Proteste bewarb. Sie wies darauf hin, dass sie Selenskyj für „einen gefährlichen Kriegstreiber“ halte. Auch während der Proteste in Aachen wurde bei überwiegend ausbleibender Kritik an Putin stetig wiederholt, dass Selenskyj ein „Kriegstreiber“ sei.
Für die Demonstrationen gegen den Karlspreis und gegen Selenskyj hatten neben der „dieBasis“ besonders „Querdenker*innen“, Verschwörungsideologen, rechte Gruppen, AfD-Anhänger*innen und „Reichsbürger*innen“ aus Nordrhein-Westfalen (NRW) und dem benachbarten Ausland mobilisiert. Der trotzdem geringe Zuspruch war ein Zeichen dafür, wie marginalisiert und isoliert die „Bewegung“ ist. Von den zuvor angekündigten Redner*innen kam fast niemand nach Aachen. Teilnehmende hingegen waren überwiegend aus dem übrigen Rheinland, den Niederlanden und Belgien angereist.
Isolierte Parallelgesellschaften
„Querdenken 241“ hielt zunächst am Sonntag (14.5.) einen eigenen Demonstrationszug vom Kurpark durch die Aachener Innenstadt mit rund 200 Personen ab. Teilnehmende schlossen sich danach der Kundgebung aus dem Querfront-Lager vor dem Elisenbrunnen an. Es nahmen hier insgesamt rund 250 Menschen teil. Zuvor als Rednerin angekündigt war hier die Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dağdelen, eine Vertraute von Sahra Wagenknecht. Angefragt für diese Kundgebung waren im Vorfeld auch andere teils prominente Redner*innen, darunter Oskar Lafontaine.
Keine*r davon besuchte am Ende Aachen. Eine aufgezeichnete Rede wurde von dem Theologen Eugen Drewermann abgespielt. Neben lokalen Redner*innen trat der aus Siegen angereiste Bernhard Nolz ans Mikrofon. Dem unterdessen pensionierten Lehrer war im Jahr 2002 der Aachener Friedenspreis verliehen worden. Einige Jahre später geriet der äußerst USA-kritische Friedenspädagoge in die Kritik. Er hatte eine Karikatur verwendet, die eine Krake zeigte, die am Kopf eine israelische Flagge mit einem Hakenkreuz statt des Davidsterns trug.
In Aachen sprach Nolz am Sonntag auf einer Versammlung, an der Mitglieder der Linken, Verschwörungsgläubige, „Querdenker*innen“, Rechtsextreme, „Reichsbürger*innen“ sowie Mitglieder und Funktionäre der „dieBasis“ und der regionalen AfD teilnahmen. Die Rede des Friedenspreisträgers, zu dem der Verein vor Jahren auf Distanz ging, wurde live gestreamt von einer rechtsradikalen, verschwörungsideologischen Medienaktivistin aus Düren. Nach Nolz traten noch Rapper der in Teilen dem rechten „Wutbürger“-Spektrum zuzuordnenden „La familia Aachen“ auf. Die Rapper standen vor wenigen Wochen in Hamburg mit Musikern des rechtsradikalen, verschwörungsideologischen Projektes „Rapbellions“ auf der Bühne.
Vor dem Stadttheater fand eine „Mahnwache“ mit knapp 30 Personen statt, zu der russische Nationalisten und Rechtsextremisten mobilisiert hatten. Veranstalter war die Vereinigung „Aufbruch Frieden-Souveränität-Gerechtigkeit“ mit Sitz in Stößen (Sachsen-Anhalt). Dem Vorstand gehören der Ex-AfD-Politiker André Poggenburg (Stößen), der frühere „Pro NRW“-Funktionär Manfred Beisicht (Leverkusen) und eine Frau aus Köln mit russischen Wurzeln an. Teil des Vorstandes ist auch ein Mann aus Süddeutschland, der in der bayerischen „Verfassungsschutzinformation“ für das 1. Halbjahr 2022 als „Reichsbürger und antisemitischer Verschwörungstheoretiker“ bezeichnet wird. Als die große pro-ukrainischer Demonstration (s.u.) vorbeizog, wurden die Teilnehmer*innen auch aus dieser Kundgebung heraus als „Faschisten“ und „Nazis“ beschimpft.
Über die Kölnerin und ihren Ehemann deckten Medien vor Monaten auf, dass sie Putin-Propagandisten sind und russische Truppen in der Ukraine unterstützten. Gegen die Frau laufen Medienberichten zufolge Ermittlungsverfahren. Sie soll eine Belohnung und Billigung von Straftaten begangen haben, indem sie den russischen Angriffskrieg öffentlich unterstützt habe. Außerdem soll das Paar bei einer Reise in die von Russland besetzten Teile der Ukraine Sachgüter an Putins Truppen gespendet haben.
Gegen die russische Propaganda, „Querdenker*innen“ und die Querfront richtete sich eine Demonstration des Vereins „Ukrainer in Aachen“. An dem beachtlichen Demonstrationszug mit vielen blau-gelben Fahnen – darunter ein 100 Meter langes und zwei kürzere Banner – nahmen rund 1.500 Menschen teil. Darunter waren auch Unterstützer*innen lokaler Parteien, Antifaschist*innen, Belarusse*innen und Menschen, die sich mit ihren weiß-blau-weißen Fahnen zur russischen Opposition bekannten. Vor allem waren aber viele Migranten und Geflüchtete aus der Ukraine in dem Protestzug. Tausende Menschen, unter ihnen viele Ukrainer*innen, verfolgten später die Preisverleihung auf Videowänden im Elisengarten und auf dem Katschhof. Die große Mehrheit auf Aachens Straßen und Plätze bildeten an diesem Tag Menschen, die mit den Ukrainer*innen solidarisch waren – und eben jene Ukrainer*innen, denen als Bevölkerung des Landes der Preis verliehen wurde, den Selenskyj stellvertretend entgegennahm.
Revisionismus und Antisemitismus
Während die Polizei in ihrer Pressemitteilung von einem friedlichen Verlauf der Proteste berichtete, kam es vereinzelt dennoch zu Zwischenfällen und Rangeleien. Die Polizei schritt in den beschriebenen Fällen ein, auch wenn die strafrechtliche Relevanz meistens nicht überschritten war. Zugleich kam es zu weiteren Vorfällen. Ein Teilnehmer der Querfront-Demo bewegte sich trotz lockerer Polizeikette mehrfach nahe der Ukraine-Demo und provozierte die Teilnehmer*innen. Später bedrängte der Mann Antifaschist*innen, die als Putin-Kritiker*innen erkennbar waren. Ein Teilnehmer der Kundgebung am Elisenbrunnen zeigte einem Fotografen provokativ den verbotenen Kühnen-Gruß. Dabei handelt es sich um eine von dem Neonazi Michael Kühnen vor Jahrzehnten eingeführte Abwandlung des Hitler-Grußes. Ein anderer Mann, der vorher noch an der rechtsextremen Kundgebung am Theater teilgenommen hatte, zeigte den vorbeiziehenden Ukrainer*innen mit dem linken Arm einen Hitler-Gruß – offenbar als geschmacklose, provokative Geste gedacht, um sie als „Nazis“ zu labeln.

Die Tageszeitung „taz“ zitierte einen aus dem südhessischen Lorsch angereisten Impfgegner und Verschwörungsgläubigen, der 2022 dort als parteiloser Kandidat zur Bürgermeisterwahl angetreten war. Andere Lokalpolitiker zweifelten seinerzeit an der rechtsstaatlichen Gesinnung des Mannes. Sonntag nahm er an der „Querdenken“- und Querfront-Demo teil und sagte der „taz“, Selenskyj sei „ein bösartiger Nazi […] Ein Zionist.“ Der Mann beschrieb sich gegenüber dem Reporter als „freien, souveränen Menschen“, was an die „Reichsbürger*innen“-Ideologie erinnert. In Reden und Losungen auf Plakaten wurde zudem russische Propaganda verbreitet. Hinzu kamen Revisionismus, Fake-News und Verschwörungserzählungen. Wie in der Propaganda Putins wurden Ukrainer*innen und Selenskyj immer wieder auf allen drei Versammlungen als „Faschisten“ und „Nazis“ diffamiert.
Auf einem Plakat forderte ein Teilnehmer der „Querdenken“- und Querfront-Versammlungen, der Karlspreis möge an Russland vergeben werden für den nach Ende des Zweiten Weltkrieges „zweiten Kampf gegen die Nazis[.] Selenskyj verschwinde mit deiner elenden Mörder- und Lügenbrut[.] Wer Nazis ehrt und preist, hat in der europäischen Politik nichts zu suchen!“ Wie aus einer anderen Zeit wirkte ein Mann aus dem Umfeld der „dieBasis“, der auf mehreren Plakaten gegen die Corona-„Plandemie“ und das Impfen agitierte. Zugleich empfahl er gegen das Virus „Gottes Apotheke“ mit Vitaminen, Mineralstoffen und Spurenelementen. All das schütze „wirklich“ vor einer Corona-Infektion.
Weite Teile der Proteste gegen den Karlspreis wirkten am Sonntag wie ein krudes Potpourri aus Verschwörungserzählungen, Verfolgungswahn und Realitätsverlust. Ein aus dem Kreis Euskirchen angereister Verschwörungsideologe behauptete in einem Video, Russland kämpfe heute „für die Freiheit der Welt“. Während nicht wenige der Teilnehmer*innen zu den drei Versammlungen angereist waren, verbreitete ein rechtsextremer Putin-Anhänger in einem Chat der Szene über die Demonstration der Ukrainer*innen die Lüge, „Ukrainische Faschisten“ seien aus Propaganda-Gründen „zuhauf angekarrt“ worden.
Weil ein Mann zu Beginn der Ukraine-Demo auch eine Fahne des rechtsextremen „Asow“-Regiments gezeigt hatte, rückten Putin-Anhänger später deswegen die Ukrainer*innen in der Demo generell in die Nähe des Rechtsextremismus – ungeachtet der Tatsache, dass an allen drei eigenen Versammlungen auch Rechtsextremist*innen teilgenommen haben. Hinzu kamen in Chats, Kommentarspalten, Videos und Foren der Szene fremdenfeindliche Argumentationsmuster. Hier lebende und gut integrierte Migrant*innen oder die Geflüchteten aus der Ukraine wurden als hasserfüllte, aggressive und verblendete Menschen bzw. „Horde“ dargestellt. Aufgrund fehlender Sprachkenntnissen könne mit diesen kein Dialog stattfinden. Der deutschen Bevölkerung gegenüber seien sie undankbar und sollten ausreisen, hieß es unter anderem.
Gegen-Karlspreis für den „Jesus der Zeit“
Traditionell wird der Karlspreis an Christi Himmelfahrt verliehen. Die diesjährige Terminänderung wurde nötig, da prominente und hochrangige Politiker*innen an Vatertag andere Verpflichtungen hatten und dem Festakt nicht hätten beiwohnen können. Aachens Querfront und „Querdenken 241“ demonstrierten trotzdem auch am 18. Mai noch mal. An dem Demonstrationszug, der vom Kurpark ausgehend durch die Stadt zog, nahmen rund 70 Personen teil. Vor dem historischen Rathaus verlieh man dann einen Art Gegen-Karlspreis an den Theologen Eugen Drewermann. Daran nahmen fast 200 Menschen von Links- bis Rechtsaußen teil. Angereist aus dem übrigen NRW waren unter anderem viele „Querdenker*innen“, Impfgegner*innen und „Freie Linke“. Vertreten waren auch viele Anhänger und Funktionäre der „dieBasis“, hinzu kamen Menschen aus einem sehr esoterischen und christlichen Spektrum. Gestreamt wurde alles abermals live von einer rechtsradikalen, verschwörungsideologischen Medienaktivistin aus Düren sowie vom Bundesverband der „dieBasis“.
Den „alternativen Karlspreis“ hatte man zunächst dem Verschwörungsguru und „Friedensforscher“ Daniele Ganser angedient. Letztlich erhielt dann Drewermann die „Aachener Auszeichnung für Menschlichkeit“. Das Bild des Theologen ist dabei in der öffentlichen Wahrnehmung verzerrt. Viele Menschen sehen in ihm immer noch nur den kirchenkritischen Geist, der er zweifellos war und ist. In diesem Sinne war er auch kürzlich Referent am Kaiser-Karls-Gymnasium und im Katechetischen Institut des Bistums Aachen. Im Institut wohnten theologisch und religiös Interessierte dem Vortrag bei, zugleich aber auch Verschwörungsgläubige und „Querdenker*innen“.
Denn Drewermann hat sich diesen und der aus den Corona-Protesten entstandenen neuen „Friedensbewegung“ angenähert, was manche bestreiten. Schon im Umfeld der rechtsesoterischen „Friedensmahnwachen“ 2014 trat er als Redner auf. Der Kundgebung in Aachen wohnte der Theologe jedoch nur per Smartphone-Schalte bei. Zuvor angefragte und angekündigte prominente Redner*innen waren ebenso nicht anwesend. Lediglich Laudator Dirk Pohlmann war angereist. Pohlmann publiziert schon seit einigen Jahren in rechts-„alternativen“ Medien. Mitte 2022 nannte der „Tagesspiegel“ den Laudator in einem Bericht über das Festival „Pax Terra Musica“ in Brandenburg („Wo Putin-Anhänger mit Querdenkern feiern“) einen „Verschwörungsideologe[n]“.
Wie abstrus nach den Protesten gegen den Karlspreis auch diese Veranstaltung und Teile des Publikums zuweilen wirkten, zeigte die Ehrung. Eine Frau lobte Drewermann über die Smartphone-Verbindung mit sich vor Euphorie überschlagender Stimme als „Jesus der Zeit“ – immerhin an Christi Himmelfahrt. Ein Mitinitiator der „Preisverleihung“ wiederholte die Aussage für die Teilnehmer*innen der Kundgebung auf dem Markt dann noch einmal über die Lautsprecheranlage. Drewermann sei „der Jesus der Zeit“, rief der Senior den Umstehenden zu. Das oben beschriebene Publikum beklatschte diese Aussage. Sekunden später wurde die Preisverleihung vollzogen. (mik)