Schändung jüdischer Friedhof: Bewährungsstrafen im Prozess nach wiederholter Verzögerung

Region Aachen. Manchmal scheint es einen Kommissar Zufall wirklich zu geben: Zwei Neonazis, die den jüdischen Friedhof in Geilenkirchen zerstören, fühlen sich zu sicher; ein Senior im Nachbarhaus wird durch den Lärm wach und wählt geistesgegenwärtig den Notruf; mehrere Polizeistreifen haben sich zufällig zur Dienstbesprechung auf der nahen Wache getroffen und nicht in der rund zwölf Kilometer entfernten Kreispolizeibehörde, sie sind in gut drei Minuten am Tatort; die überraschten Neonazis verstecken sich eher unbeholfen in einem Vorgarten hinter einem Mäuerchen und fallen daher den Polizisten sofort auf.

Das Amtsgericht Geilenkirchen hat am Donnerstagnachmittag zwei Neonazis wegen der Schändung des jüdischen Friedhofes in Geilenkirchen zu Haftstrafen auf Bewährung verurteilt. Auslöser für die Tat Ende Dezember 2019 war demnach die rechtsextreme und antisemitischen Gesinnung der beiden, betonte Richter Thomas Schönig. Es gebe eine Vielzahl an Indizien, Be- und Hinweise, dass die Männer die Taten begangen hätten.

Ein Auszubildender (23) aus Gangelt wurde zu einem Jahr und einem Monat Haft verurteilt, die Strafe wurde für vier Jahre zur Bewährung ausgesetzt. Ein Umschüler (35) aus Selfkant wurde zu einem Jahr und drei Monaten Haft verurteilt, ebenso ausgesetzt zur Bewährung. Beide müssen als Bewährungsauflagen jeweils 2.500 Euro Geldbuße an eine gemeinnützige Einrichtung zahlen. Ebenso entschied das Gericht, dass sie der Stadt einen entstandenen Schaden von rund 13.000 Euro zur Wiederherstellung des jüdischen Friedhofes zahlen müssen. Über die genaue Höhe des Schadens soll aber nochmals gesondert entschieden werden.

Prozessbeginn 856 Tage nach der Festnahme

Überschattet war der Prozess von vielen Verzögerungen. Zugetragen hatte sich die Schändung am frühen Morgen des 30. Dezember 2019. Im Frühjahr 2021 lag dann die Anklageschrift vor. Ein erster Prozessstart platzte im Herbst 2021 nach nur einem Verhandlungstag und einer vor der Fortsetzung festgestellten Corona-Erkrankung eines Beteiligten. Der jetzt beendete Prozess war der siebte Anlauf und begann am 4. Mai 2022 – insgesamt 856 Tage nachdem die Angeklagten von der Polizei gefasst wurden. Zu Verzögerungen trugen unter anderem vier Erkrankungen, ein Verteidigerwechsel und der Wechsel des zuständigen Richters im Amtsgericht bei.

Der wieder hergerichtete jüdische Friedhof in Geilenkirchen im Herbst 2021. (Foto: Klarmann)

 

Vorgeworfen wurde einem 1998 geborenen Auszubildenden aus Gangelt und einem 1986 geborenen Umschüler aus Selfkant, auf dem jüdischen Friedhof 47 Grabsteine umgeworfen und diese oder weitere mit Farbe besprüht zu haben. Entsprechend gesprühte Symbole vermittelten bis auf ein seitenverkehrtes, unfertiges Hakenkreuz keine politischen Botschaften. Die Staatsanwaltschaft Aachen hatte die beiden Rechtsextremen daher nur wegen Störung der Totenruhe und Sachbeschädigung angeklagt, dem Jüngeren auch Widerstand gegen Polizisten vorgeworfen. Er hatte sich bei seiner Festnahme in unmittelbarer Tatortnähe gewehrt.

Die Justiz vermittelte zu Beginn teilweise einen Eindruck, als spiele die politische Gesinnung der Angeklagten nur eine geringe Rolle. Dabei hatte die Polizei schon in ihrer Pressemitteilung am Nachmittag des Tattages von zwei „polizeibekannten Tatverdächtigen“ berichtet. Gegenüber der Lokalzeitung hatte die Pressestelle des Polizeipräsidiums Aachen auf Anfrage nur wenige Stunden nach der Tat konkretisiert, beide seien „schon zuvor mit rechtsgerichteten Straftaten aufgefallen.“ Wenige Tage nach der Tat berichteten Medien dann, dass die Tatverdächtigen Mitglieder beziehungsweise Sympathisanten der Neonazi-Gruppe „Syndikat 52“ (S52) waren und sich politisch im Umfeld der neonazistischen Kleinpartei „Die Rechte“ (DR) engagierten.

Seltsam unpolitische Neonazis

Auffällig war ferner die Wohnort-Nähe beider zur Gemeinde Gangelt. Erst Mitte Juli 2019 waren dort auf einem abgelegenen jüdischen Friedhof fast 30 Grabsteine umgestoßen, zerstört oder mit Hakenkreuzen und anderen Symbolen besprüht worden. In einer Antwort der nordrhein-westfälischen Landesregierung auf eine Große Anfrage der Bündnis-Grünen wurde diese Tat 2020 – obschon sie strafrechtlich gesehen bis heute als unaufgeklärt gilt – Aktivisten von S52 bzw. der DR zugerechnet. Erwähnt wird in der Antwort auch die Schändung des jüdischen Friedhofes in Geilenkirchen, auch sie wurde dabei S52-Mitgliedern zugerechnet. Beide Schändungen gehören zu den schwersten und massivsten in NRW in den letzten Jahren.

Die später Angeklagten nahmen nach Medienrecherchen und laut Zeugenaussage eines Staatsschutz-Beamten bis mindestens Ende 2021 regelmäßig an neonazistischen Versammlungen teil. Bei einem „Trauermarsch“ im Oktober in Dortmund für den verstorbenen Neonazi Siegfried Borchardt („SS-Siggi“) waren sie ebenso anwesend wie bei einem „Heldengedenken“ der NPD in Mönchengladbach im November. Beide Veranstaltungen wurden im Landesverfassungsschutzbericht für das Jahr 2021 erwähnt – und zwar im Zusammenhang mit der Glorifizierung nationalsozialistischer Gruppierungen respektive der „Verklärung“ historischer Nazi-Verbrechen.

Vertreter*innen der örtlichen „Initiative Erinnern“ kritisierten seit Herbst 2021 in Interviews, Leserbriefen und Stellungnahmen mehrfach, dass sie eine Entpolitisierung des Prozesses befürchteten. Hans Bruckschen, Koordinator der Initiative, bewertete die Anklageschrift im September eher als eine solche für einen „Jungenstreich“, so als wäre nur eine „Kirmesbude“ umgestoßen worden. Seinerzeit veröffentlichten alle im Stadtrat vertretenen Fraktionen, das Bündnis gegen Rechts im Kreis Heinsberg sowie die Geilenkirchener Schulen eine gemeinsame Stellungnahme. Die Staatsanwaltschaft wurde darin ungewöhnlich deutlich kritisiert.

Mit keinem Wort sei „in der Anklage der antisemitische und volksverhetzende Charakter dieser Friedhofsschändung“ oder der politische Hintergrund der Angeklagten erwähnt worden. Judenfeindliche Verbrechen müssten klar benannt und angeklagt werden, wurde in der Stellungnahme gefordert. Seitdem wiederholten Lokalpolitik, Stadt und die Initiative diese Forderung stetig. Auch im Ausland lebende Nachfahren der aus Geilenkirchen stammenden und zum Teil im Holocaust ermordeten Jüdinnen und Juden forderten in Schreiben, die Tat und die politische Gesinnung der Angeklagten müsse klar benannt werden. Anfang Juni schloss sich die noch neue Aufklärungsstelle „RIAS NRW – Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus“ dem an und stellte ebenso fest: „Antisemitische Hassverbrechen müssen als solche benannt und in der Strafzumessung berücksichtigt werden!“

Kommissar Zufall und die Kinderpornografie?

Für die politische Einordnung der Angeklagten war ein als Zeuge geladener Ermittler des Staatsschutzes aus dem Polizeipräsidium Aachen zuständig. Laut seiner Aussage googelte einer der beiden Angeklagten rund eineinhalb Stunden vor der Tat nach Informationen zu dem jüdischen Friedhof in Geilenkirchen. Die Erkenntnis beruht auf Auswertung beschlagnahmter Computer und Handys der Angeklagten. Der Staatsschützer ergänzte, der 35-Jährige aus Selfkant habe auch Inhalte wie „Ich hasse Juden“, „Juden töten“ gegoogelt oder nach dem antisemitischen Computerspiel „KZ Manager“ gesucht.

Laut Zeugenaussage eines Staatsschützers trat einer der Rechtsextremen in der Vergangenheit als „Heins Berg“ auf. (Archiv: Klarmann)

 

Der Polizist nannte ferner den Nickname, also den Nutzernamen, mit dem der Angeklagte zur Tatzeit bei Facebook angemeldet war: „Heins Berg“. Daraufhin deckte die Lokalzeitung auf, dass über das Profil auch menschenverachtende antisemitische Inhalte verbreitet worden waren. Bekannt wurde zudem, dass in unmittelbarer Tatortnähe der unverschlossene PKW des älteren Angeklagten sichergestellt worden war. Angesprochen wurde im Prozess auch, dass dieser PKW ebenso im Umfeld von Attacken auf das Büro der Bündnis-Grünen in Heinsberg aufgefallen war.

Nach den vorläufigen, kurzen Festnahmen Ende 2019 in Geilenkirchen fanden zudem Hausdurchsuchungen bei den Angeklagten statt. Bei dem Umschüler aus Selfkant waren dabei nicht nur Anschein- und Dekowaffen sowie rechtsextreme Propaganda und ähnliches aufgefunden worden, sondern ebenso Material, das als mutmaßlich kinderpornographisch eingestuft wurde. Ein entsprechendes Ermittlungsverfahren dazu läuft gesondert. Bekannt wurde ebenso, dass dieser Rechtsextremist laut Prozessakte als „Intensivtäter Rechts“ geführt wird.

Der Ältere, ergänzte der Staatsschützer in seiner Zeugenaussage, sei schon im Zusammenhang mit der 2012 verbotenen Neonazi-Gruppe „Kameradschaft Aachener Land“ (KAL) aufgefallen. Beide Angeklagten seien in den letzten Jahren bei deren Nachfolger „Syndikat 52“ (S52) aktiv gewesen. Die Hausdurchsuchung bei dem jüngeren Angeklagten habe nur wenige Beweise und Hinweise auf dessen Gesinnung ergeben, ergänzte der Polizist. Gleichwohl lägen Erkenntnisse vor, dass bei dem heute 23 Jahre alten Mann unter anderem eine Silvester-Feier von S52 und DR stattgefunden habe.

Im Herbst 2019 hätten die beiden Rechtsextremen auch Flugblätter auf einem Schützenfest in Gangelt verteilt, weswegen es zu Auseinandersetzungen und Körperverletzungsdelikten gekommen sei, sagte der Staatsschützer im Prozess aus. Einen Tag später sei auf dem Fest zwecks Unterstützung der Beiden dann eine größere Gruppe von Neonazis aufmarschiert, darunter ehemalige KAL-Leute und aktive S52- und DR-Unterstützer*innen. Abermals hätten die Schützen die Polizei rufen müssen, um die sich zuspitzenden neuerlichen Auseinandersetzungen zu verhindern.

Motiv „Hass auf Juden“

Am Tag des Urteils, dem 23. Juni, waren antisemitische, nationalsozialistische und menschenverachtende Chat-Nachrichten der Angeklagten verlesen worden. In ihrem Plädoyer hatte die Staatsanwältin danach ausdrücklich betont, das Motiv für die Schändung sei klar erkennbarer „Hass auf Juden“ gewesen. Der Amtsrichter betonte in seiner Urteilsbegründung, auch etwaige Vorstrafen resultierten aus teils „menschenverachtenden“ Taten. Beide nun in erster Instanz Verurteilten sind der Justiz nämlich schon wegen rechtsextremer bzw. szenetypischer Delikte bekannt. Der Ältere, siehe oben, wurde in der Vergangenheit schon einmal wegen des Besitzes von kinderpornografischem Material verurteilt. (mik)