Bericht: Schuf der „Antisemitismus-Export“ der Nazis den globalen Hass auf Jüdinnen und Juden?
Aachen. Am vergangenen Wochenende fand in Aachen die zweite Sommerakademie des Centrums für Antisemitismus- und Rassismusstudien (CARS) an der Katholischen Hochschule (katho) statt (*). Schwerpunktthema war „Antisemitismus vor und nach dem 7. Oktober“. Rund 80 bis 90 Interessierte, Studierende, Aktivist*innen und Wissenschaftler*innen aus ganz Deutschland nahmen an dem dreitägigen Treffen mit fast zwanzig Vorträgen, Referaten und Debatten teil. Dabei wurde die Vielschichtigkeit des historischen und aktuellen Antisemitismus deutlich.
In seiner Begrüßung wies Stephan Grigat, Professor für Theorien und Kritik des Antisemitismus und Leiter des CARS, darauf hin, dass man sich bereits bei der letzten Sommerakademie ausführlich mit dem Thema Antisemitismus im Kontext des Nahen Ostens beschäftigt habe. Für 2024 seien eigentlich die Themen Rassismus und Antiziganismus geplant gewesen. Die Entwicklungen seit dem Terror der Hamas am 7. Oktober 2023 hätten das CARS jedoch „genötigt“, das diesjährige Thema der Aktualität anzupassen. Grigat bedauerte, dass der angekündigte Vortrag von Deborah Hartmann, Leiterin der Gedenkstätte Haus der Wannsee-Konferenz, kurzfristig abgesagt werden musste.
Grigat betonte auch, dass der Zionismus eine „unmittelbare Reaktion“ auf den Antisemitismus unter anderem in Europa gewesen sei. Das Wissen über den Charakter und die Ursprünge des Zionismus sei jedoch in der Bevölkerung und unter Studierenden oft nur peripher vorhanden. Manche glaubten, es handele sich um eine radikale religiöse Bewegung. Tatsächlich sei der Zionismus nie eine homogene solche gewesen, es gab und gebe beispielsweise linken, rechten, religiösen und säkularen Zionismus. Einig sei man sich nur darin, dass Jüdinnen und Juden angesichts des weltweiten und zum Teil hochgradig eliminatorischen Antisemitismus einen Staat als „Schutzraum“ benötigten.
Weit verbreitet, so Grigat weiter, sei der Glaube, Antisemitismus sei erst eine Reaktion auf die Staatsgründung Israels, denn historisch gesehen habe es ihn schon lange vorher gegeben. Dabei sei der Hass von Araber*innen auf Jüdinnen und Juden kein Phänomen der frühen Geschichte in der arabischen Welt. Das historische Kairo sei beispielsweise moderner gewesen als europäische Städte zu jener Zeit. Jüdinnen und Juden hätten in diesem Kairo weit weniger Antisemitismus erlebt als etwa in Europa. Später erst sei ein arabischer respektive islamischer Antisemitismus entstanden, der dem heutigen gleiche. Die Folge dieses neuen Antisemitismus sei der Vernichtungswille gegenüber Israel und den Jüdinnen und Juden durch Hamas und Hisbollah sowie den Iran. Dies sei keine bloße Rhetorik, warnte Grigat, es gehe auch nicht darum, dass die „antisemitischen Terrorarmeen“ nur dem Zionismus feindlich gesinnt seien, denn sie hegten eine ultimative Feindschaft gegenüber Jüdinnen und Juden.
„Antisemitismus-Export“ der Nationalsozialist*innen
Die Historikerin Ulrike Becker vom Mideast Freedom Forum Berlin widmete sich einem Teil der Wurzeln des heutigen eliminatorischen Antisemitismus in Teilen der islamistischen und arabischen Welt. Sie skizzierte Recherchen aus ihrer Dissertation und ihrem Buch „Nazis am Nil“ (Buchbesprechung und Zusammenfassung). Im Nationalsozialismus sei der Antisemitismus ein zentrales Element der Ideologie gewesen und in ihrem Streben nach Weltherrschaft hätten die Nazis erkannt, dass sie ihren nationalen und völkischen Judenhass „exportieren“ müssten, um daraus einen „internationalen Antisemitismus“ beziehungsweise einen „globalisierten Antisemitismus“ zu erzeugen, so Becker.
Die Historikerin stellte an der Aachener katho dar, wie die Nationalsozialist*innen Bündnispartner suchten, um weltweit antisemitische Bewegungen, Gruppen oder Parteien zu unterstützen. Adolf Hitler war gegen die „Verjudung“ Palästinas und so wurden Kooperationen mit arabischen Protagonisten aufgebaut. Antisemitische Propaganda, so die Historikerin, sei beispielsweise über muslimische Verbände, Geistliche und einen vom NS-Regime initiierten Radiosender in Ägypten verbreitet worden, damals bereits unter dem Label eines vermeintlichen Antizionismus. Schon damals kam eine antikoloniale Lesart hinzu, die sich etwa gegen die mit Nazideutschland verfeindete Kolonialmacht in Palästina, Großbritannien, richtete. Dieser „Antisemitismus-Export“ der Nationalsozialist*innen, betonte Becker, sei entscheidend für den heutigen, modernen und globalen Antisemitismus gewesen.
Im zweiten Teil ihres faktenreichen Vortrags skizzierte die Wissenschaftlerin ein Phänomen, das kaum bekannt ist. Während in der neu gegründeten Bundesrepublik alte Nazis wieder in Behörden aktiv wurden oder an anderer Stelle erneut Judenhass verbreiteten, wurden im arabischen Raum – etwa in Syrien – Muslime und Islamisten politisch oder diplomatisch aktiv, die zuvor von den Nazis indoktriniert oder mittels Stipendien an nationalsozialistischen Hochschulen im „Deutschen Reich“ studiert hatten. Angesichts der Staatsgründung Israels versuchten arabische Vertreter, den jüdischen Staat zu delegitimieren und dessen „Dämonisierung“ vorantreiben.
Deutsche Altnazis wiederum gerierten sich laut Becker nun als Antizionisten und traten im Nachkriegsdeutschland als Akteure auf, die angeblich nun nur noch palästinensische Interessen vertraten. Beide – einheimische wie arabische Judenhasser – kannten sich teilweise noch aus der Zeit des „Reiches“ oder ergänzten sich zumindest in ihrem Handeln. Im Zuge einer „Täter-Opfer-Umkehr“, so Becker, sei auch die Shoah relativiert worden, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der BRD und Israel sowie Wiedergutmachungszahlungen sollten torpediert werden. Aus dem Judenhass des NS-Regimes, erläuterte Becker, sei so ein „israelbezogener Antisemitismus“ geworden.
„Israelbezogener Antisemitismus“ an Hochschulen und im intellektuellen Diskurs
Aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus und seine Folgen wurden in den weiteren Vorträgen und Diskussionen beleuchtet. Thomas von der Osten-Sacken, Geschäftsführer der im Nahen Osten tätigen Hilfsorganisation WADI e.V. und Publizist, erläuterte in seinem oft impulsiven Vortrag eine Art Schieflage in der aktuellen Palästina-Solidarität. Demokratisierungs- und Liberalisierungsprozesse in den palästinensischen Gebieten und vor Jahren in Gaza, wo der „Parastaat“ der Hamas Proteste aggressiv niederschlug, hätten im Westen kaum Solidarität und Unterstützung erfahren. Jetzt, wo das israelische Militär nach dem Terror der Hamas hart vorgehe, gebe es weltweit eine breite „Palästina-Solidarität“. Zudem gebe es eine Verklärung der Gräueltaten der Hamas, ihrer Ideologie und ihrer Verbindungen zur internationalen organisierten Kriminalität im Drogen-, Menschen- und Organhandel. Die Hamas sei eine „kriminelle politische Bewegung“.
Katrin Henkelmann und Andreas Stahl (beide CARS) wiesen darauf hin, dass nach dem 7. Oktober die Zahl antisemitischer Straftaten und Vorfälle an Hochschulen stark zugenommen habe, was sich unter anderem in Protestaktionen, Schmierereien und Parolen äußere. Dabei handele es sich häufig um „israelbezogenen Antisemitismus“, der auf der alten christlichen Judenfeindschaft aufbaue und zeige, wie „wandelbar“ der moderne Antisemitismus heute sei. Das Agieren des propalästinensischen Spektrums, etwa im Zuge von Protestcamps an Hochschulen und Universitäten, verunsichere und bedränge jüdische Studierende, die allein aufgrund ihres Jüdischseins verbal beleidigt oder bedroht würden, unabhängig davon, wie sie selbst zum Staat Israel stünden, so Henkelmann und Stahl.
Sowohl Studierende als auch Lehrende seien so aufgefallen – beispielsweise sei in vermeintlich wissenschaftlichen Äußerungen der Zionismus als Fortsetzung des „Hitlerismus“ bezeichnet worden. Immer wieder werde auch versucht, den Begriff Antisemitismus zu „eliminieren“, gleichzeitig werde der Holocaust relativiert und die Hamas beschönigend als „revolutionäre Bewegung“ dargestellt. Aktionistisch sei an den Hochschulen jedoch nur eine Minderheit aktiv, die allerdings sehr lautstark auftrete und andere dadurch oder durch die Störung von Veranstaltungen verunsichere, schilderten Henkelmann und Stahl. Hier setzt CARS künftig mit dem Präventionsprogramm „Israelbezogenem Antisemitismus an Hochschulen entgegentreten“ (IBAS) an.
Der Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Sexismus
Bianca Loy vom Bundesverband RIAS (Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus) beschrieb den Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Sexismus. So bildeten israelfeindliche Demonstrationen, soziale Netzwerke oder Chats eine „Gelegenheitsstruktur“ dafür, dass als Gegnerinnen oder Jüdinnen wahrgenommene Frauen sowohl antisemitisch als auch sexistisch beleidigt und bedroht würden. Nicht selten sei dies mit Vergewaltigungs- und Vernichtungsphantasien verbunden. Solche Äußerungen, so Loy, passten auch zum Vorgehen der Hamas, die am 7. Oktober Jüdinnen oder für Jüdinnen gehaltene Frauen in ihren Wohnungen oder bei einem Musikfestival erniedrigt, vergewaltigt und getötet habe. Während propalästinensische Männer dies verbal kopierten, leugneten andere gleichzeitig die misogyne Gewalt am 7. Oktober, um die Hamas in der Öffentlichkeit in einem positiven Licht erscheinen zu lassen.
In Sachen Sexismus und Misogynie gebe es eine „neue Dimension der Enthemmung“, sagte Loy. Ihre Kollegin Gesche Gerdes, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Passau, verwies in diesem Zusammenhang auf eine Nähe von Incel und Dschihadismus. Beide Gruppen bzw. militante Bewegungen solcher „autoritären Rebellen“ vereinten Antisemitismus und Antifeminismus. Beide seien zutiefst antiemanzipatorisch ideologisiert. Gerdes wertet Internetforen der Incel-Szene aus. Dort habe man im Sinne eines „patriarchalen Fundamentalismus“ mit „unverhohlener Freunde und Bewunderung“ darauf reagiert, dass Hamas-Terroristen Frauen vergewaltigt und ermordet hätten. Sie sei zwar durch ihre Recherchen in solchen Foren abgehärtet, aber was sie dort am und nach dem 7. Oktober gelesen und gesehen habe, habe selbst sie schockiert, so Gerdes.
Karin Stögner vom Lehrstuhl für Soziologie der Universität Passau wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass in den öffentlichen Debatten nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober Antisemitismus und Antifeminismus als Tatmotive oft ausgeblendet würden. Der wissenschaftliche und öffentliche Diskurs habe daher eine „ganz andere Richtung“ eingeschlagen. Antisemiten, so Stögner, wollten „Juden und Israel schwach sehen“, genauso wie sie Frauen schwach sehen wollten. Jüdinnen und Juden sowie Frauen würden in patriarchalen Gesellschaften als „Schutzbefohlene“ abgewertet. Starke Jüdinnen und Juden oder starke Frauen würden dann als Problem eingestuft. So sei es laut Stögner für Islamisten ein „Horror“, dass Frauen in der israelischen Armee dienten und kämpften. Islamistische Kämpfer hätten große Angst, „durch die Hand von Frauen zu sterben“. (mik)
- (*) Demokratie leben! Aachen war an der Organisation und Förderung der Sommerakademie nicht beteiligt. Der Bundesverband RIAS und die ihm angeschlossenen Landesinitiativen werden durch das Bundesprogramm Demokratie leben! gefördert.